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Wie alt sind Sie? fragt der Gynäkologe.Vierundvierzig, antwortet sie.Die Oberschwester hat sofort veranlasst, dass sie einen Termin bekommt. Sogar den Krankentransport hat sie benachrichtigt, obwohl der ortsansässige Frauenarzt gar nicht weit von der Rehaklinik entfernt praktiziert.Helene hat von ihrer Angst gesprochen, schwanger zu sein.Letzte Regel? Sie denkt, es war um den zehnten Juli herum, sie erinnert sich daran, dass sie glaubte, geblutet zu haben, als sie aus dem Koma erwacht war. So genau weiß sie das nicht, sagt sie. Der Arzt macht einen Schwangerschaftstest. Er fällt negativ aus. Sie rechnet. Sie kann dem Arzt doch nicht erzählen, dass sie drei oder vier Wochen nach dem Platzen eines Hirnaneurysmas Geschlechtsverkehr hatte, oder? Wann war das? Mitte August? Und wenn noch nicht genügend Zeit vergangen ist für einen Schwangerschaftstest?Der Arzt sagt, alles spräche gegen eine Schwangerschaft. Keine livide Verfärbung der Vulva, die Brüste locker und nicht gespannt, Mittellinie des Bauches und Warzenhöfe nicht pigmentiert. Vom Schwangerschaftstest ganz zu schweigen.Er sieht sie lange an. Dann sagt er, dass sie mit vierundvierzig zwar noch keineswegs zum alten Eisen gehört, aber sich darauf einstellen kann, dass ihre Regelblutung sich womöglich verabschiedet hat. Das sei nach geplatzten Hirnaneurysmen oft der Fall.Da ist sie baff. Das geht ihr jetzt aber zu flott. Das will sie aber doch lieber erst einmal sacken lassen, denn damit hatte sie ja nun gar nicht gerechnet. So schnell soll sie jenseits der Wechseljahre sein, die in diesem Fall ja eigentlich nur Wechseltage, Wechselwochen gewesen wären? Interessant. Der Gedanke schmerzt direkt ein bisschen, wenn sie ihm nachgeht. Das ganze letzte Jahr hatte das Schwermutsschwert über den unglücklichen Ausgang der Schwangerschaft über ihr gependelt, mal bedenklich nahe, mal hoch genug über ihrem Kopf, dass sie es gerade noch erahnen konnte. Wenn es ihr nahekam, hätte sie am liebsten mit Matthes ins Bett kriechen und einen neuen Versuch starten wollen, den die Vernunft ihr natürlich austrieb. Aber es war gut gewesen, zu wissen, dass es noch nicht vorbei war, dass auch sie noch konnte, wenn sie es darauf angelegt hätte. Nun konnte sie vielleicht nicht mehr …Sie ist erst einmal traurig.Matthes würde erleichtert sein.Von Maljutka Malysch, muss sie plötzlich denken, hätte sie ohnehin kein Kind bekommen können.

Diese Nacht träumt sie von Putin. Putin als Djed Moros, mit weißem Bart und eisgrauem, blau schimmerndem Pelzmantel. An seiner Seite Enkelin Snjegurotschka, das Schneeflöckchen. Djed Moros Putin entsteigt seiner Troika und verteilt Geschenke. Matthes bekommt eines, die Töchter, die Söhne, die Nachbarn. Es muss wohl das Haus in der Arberstraße sein, in dem sich das abspielt. Als sie Putin ihr Geschenk abnehmen will, tritt Snjegurotschka mit schmeichelndem, forderndem Lächeln dazwischen. Snjegurotschka sieht plötzlich alt aus, wie sie da steht und grinst, Snjegurotschka hat einen Bartanflug und Kupferfinnen im Gesicht, einen verrutschten Schminkmund und gefärbte Brauen. Ihr Haar ergraut zusehends, und als sie Helene mit dem Finger lockt, ist der ziemlich lang und altersfleckig. Helene weiß selbst im Traum, an wen sie das erinnert. Lieber will sie aufwachen, aber so leicht lässt sich der Traum nicht abschütteln. Snjegurotschka fängt, im Gegenteil, erst richtig an und beginnt, sich langsam, strippend, auszuziehen. Schließlich steht sie mit einem roten Angorapullover, sonst aber nackt vor ihren Augen. Ihr Grinsen ist verschwunden, sie sieht jetzt müde und traurig aus. Findet wohl selbst, dass es Zeit ist, sich zu verabschieden.Helene erwacht?Sie weiß lange nicht, ob sie wach ist.Ihre Ohren klingeln.Früher klingelten ihrer Mutter die Ohren. Dann sagte sie immer,

jemand spricht über mich, steckte die Zeigefinger in die Gehörgänge und ruckelte sie zurecht. Spricht jemand über sie? Je länger sie sich vorstellt, jemand spräche über sie, desto klarer sieht sie Maljutka Malysch.Mit wem spricht sie?Nein, das kann aber jetzt nicht sein. Bestimmt schläft sie noch. Sie drückt sich tiefer ins Kissen, zieht die Decke nicht nur über die klingelnden Ohren, sondern auch über die Augen.Das Bild bleibt. Maljutka Malysch spricht mit Wladimir Wladimirowitsch Putin, in ihrem vorzüglichen Russisch. Spricht sie so gut, dass Helene nicht versteht, worum es geht? Sie will näher heranrücken, um etwas mitzubekommen. Jetzt kann sie erkennen, dass Maljutka einen Bart trägt und sehr kurze Haare, dass keine Brüstchen sich unter ihrem Hemd zeigen und ein Schlips, als wäre er zu eng geknotet, den Adamsapfel hüpfen lässt, und plötzlich weiß sie, was sie da sieht: Maljutka hat es ihr erzählt, kein Siegel der Verschwiegenheit hatte die Geschichte plombiert, die ohnehin nicht sie betraf, sondern einen Mann gleichen Zu-, aber anderen Vornamens. Während das Forschungsstudium in Dresden in den letzten Zügen lag, hatte der Chor, dem er damals angehörte, eine Westreise geplant. Viktor Malysch hatte eine gewisse Aufregung gespürt, aber zugleich keine Anstalten gemacht, an ein Fort-, ein Dortbleiben zu denken. Eines Tages, es mögen sechs oder acht Wochen vor der Chorfahrt gewesen sein, hatte sich ein Mann mittleren Alters neben ihn gesetzt in der Mensa, ihn versehentlich, wie er zunächst dachte, mit Sauce bespritzt. (Aber das macht doch nichts, das kriegen wir schon wieder raus!) Sie waren ins Gespräch gekommen, der andere hatte sich als passionierter Volksliedforscher vorgestellt, der eine umfängliche Sammlung an Tonbeispielen besitze. Mit seinem Tesla-B4-Gerät habe er schon in den Sechzigern aufgenommen, was nur aufzunehmen gewesen war. Im Erzgebirge, im Harz, an der See, aber auch im Kaukasus, in der Puszta oder in Masowien hätte er gesammelt.Er lud Viktor ein, sich das anzusehen und vor allem anzuhören. Zuvor könnten sie doch noch was essen gehen? Er würde sich revanchieren wollen für die Kleckerei vorhin und bat Viktor für einen Abend in der nächsten Woche in die Gaststätte» Am Thor«, Platz der Einheit. Viktor hatte zu tun, jemanden zu finden für die Söhne. Bei der Gelegenheit fiel ihm auf, dass er eigentlich jeden Abend mit den beiden verbrachte und sich auch den ganzen Vormittag darauf freute, sie nachmittags aus der Krippe holen zu können. Seine Frau arbeitete oft Spätschicht, sie war Krankenschwester, und wenn sie Früh- oder Nachtschicht hatte, nutzte sie die Zeit, die Viktor zu Hause war, zum Schlafen. Sie hatten sich selten gesehen in letzter Zeit, auch an den Wochenenden arbeitete seine Frau häufig. Nächste Woche hatte sie Spätschicht, vielleicht würde die Cousine einspringen können? So lange schon hatte er sie nicht mehr gefragt, dass er einen Augenblick lang überlegen musste, wie sie eigentlich hieß. Sah sie vor sich, die grüngrauen Augen, die sehr blonden Haare, aber ihr Name wollte ihm erst nach längerem Kramen einfallen. Jakobine hieß sie. Ein schöner Name. Er hätte einen der Söhne gern Jakob genannt, aber seine Frau hatte ihnen die Namen Tim und Tom gegeben, mit denen er sich erst anfreunden konnte, als er ihre Gesichter einen Tag lang immer wieder angesehen hatte. Er hätte Einspruch erheben können, aber seine Frau hatte die Namen offenbar sofort nach der Geburt mit solcher Bestimmtheit angegeben, dass es einem Affront gleichgekommen wäre, den er bequemerweise hatte vermeiden wollen. Darüber ärgerte er sich noch heute. Jakobine freute sich sehr, dass er an sie gedacht hatte, natürlich sagte sie zu, und Viktor war an jenem Abend tatsächlich in die Kneipe gegangen. An einem Ecktisch entdeckte er den Mann, der ihn eingeladen hatte. Eine lustige Männerrunde war da schon versammelt, und — man sprach Russisch. Einer von ihnen, ein Schmächtiger, Unansehnlicher mit hagerem, kaum unterfüttertem Gesicht, Wolodja, sagte er nur, als Viktor sich vorgestellt hatte, war ein bisschen schweigsamer als die anderen, Viktor aber, der gelernt hatte, gerade darauf zu achten, fühlte sich von ihm unausgesetzt beobachtet. Wolodja sagte, auf Nachfrage natürlich, dass er Student sei, auf die Frage nach der Fachrichtung antwortete er ausweichend, dass sein Studium mit Maschinenbau zu tun hätte und gleichzeitig mit Philosophie, Viktor hatte noch gedacht, sich verhört zu haben, und wollte nachfragen, da plauzte der schweigsame Wolodja plötzlich eine Flasche Wodka auf den Tisch. Forderte die Anwesenden auf, sich zu bedienen. Heute feierte man in der Sowjetunion den Tag des Metallurgen, sagte er. (Helene hatte sogar nachgesehen im letzten Jahr, sie erinnert sich: Es war der dritte Sonntag im Juli, an dem man diesen Tag beging.) Viktor zögerte, wenn er einmal anfing, sagte er, konnte er womöglich nicht aufhören. Und überhaupt — eigentlich war er von einem der Anwesenden zum Essen eingeladen worden, wie er in diese Russenrunde gekommen war, war ihm schleierhaft. Dabei waren sie keineswegs alle Russen, aber sie sprachen die Sprache mindestens ebenso gut wie Viktor. Kandidat für die Internationale Russischolympiade hatte er in der elften Klasse werden sollen, war auch eine Weile zum zentralen Treffen der Olympiadekader gefahren. Man hatte verfügt, dass er Fächer wie Chemie und Physik nicht brauchte, und stattdessen einen Russisch-Lernplan für ihn aufgestellt, den er mithilfe seiner Lehrerin hatte erfüllen sollen. Er hatte sich geweigert, das zu tun. Physik war sein absolutes Lieblingsfach gewesen, und wenn es ihm seltsamerweise auch nie in den Sinn gekommen wäre, das Fach zu studieren, so hatte es doch eine Faszination ausgeübt, die stärker war als Wunsch und Wille, Russisch zu sprechen. Verstanden hatte das keiner, er war Spießruten gelaufen, als er zurück in seine Schule gekommen war … Immerhin sprach er gut genug Russisch, um Wolodja auszufragen, was diesem aber unangenehm wurde. Er ging zur Toilette und setzte sich, als er zurückkam, auf einen Platz Viktor gegenüber, es war schwierig, über die Tischdistanz ein Wort mit ihm zu wechseln. Viktor erinnerte sich wieder an das versprochene Essen und ging daran, es auf eigene Faust zu bestellen, denn er war hungrig und hatte nicht damit gerechnet, so lange sitzen gelassen zu werden. Was hatte er gegessen? Tiegelwurst, erinnert sich Helene, mit gebratenen Zwiebeln, Sauerkraut und Ärbernbabbe. Das war etwas, was Wolodja ganz eklig fand und ihn sich die Nase zuhalten ließ. Er war dreiunddreißig Jahre alt. Hätte ihm an jenem Abend jemand gesagt, dass er eines Tages russischer Präsident werden würde, wäre es vermutlich ganz still geworden für einen Moment, und dann hätten sie nicht anders gekonnt, als lauthals loszulachen und dem, der das gesagt hat, für den gekonnten Witz auf die Schultern zu klopfen.Viktor war nichts für Putin. Putin suchte Verschlagene, denen es nichts ausmachte, auf mehreren Hochzeiten zu tanzen, hatte Viola gesagt. Viktor hatte das nicht gewusst. Viktor hatte auch nicht gewusst, dass er mit Putin gesprochen hatte. Er hatte sich lediglich gewundert, in was für eine Gesellschaft er da geraten war. Als der» Volksliedforscher «nicht, wie angekündigt, die Rechnung bezahlt hatte und gegangen war, ohne ein Wort zu den gesammelten Volksliedern gesagt zu haben, hatte Viktor an Geheimdienst gedacht, sagte Viola. Es aber auch wieder vergessen, weil es nicht eben selten war, an Geheimdienst denken zu müssen. Dass Viktor mit Putin gesprochen hatte, hatte erst Viola vierzehn Jahre später bemerkt. Putin war sich vielleicht nicht ganz treu, aber ähnlich geblieben …Helene weiß auf einmal nicht mehr, was Viola mit Viktor zu tun hat.Hat Viola mit Viktor zu tun?Noch einmal schließt sie die Augen, sieht den Adamsapfel über dem vermutlich zu eng geknoteten Schlips auf und nieder gehen.Sie glaubt zu wissen, aber zusammen kriegt sie es nicht.