Vier Mal setzt sie zur Erklärung an, warum sie an psychologischer Hilfe nicht interessiert ist. Vier Mal kommt sie über Satzanfänge nicht hinaus, verheddert sich, wird rot, bricht ab. Die Stationsärztin will ihr einen Stift geben, als ihr einfällt, dass Helene Rechtshänderin ist. Die nutzt den Moment der Ratlosigkeit, um ihren Laptop zu holen. Der ist an, weil sie vorhin in alten Mails gestöbert und versucht hat, verlorene Zeit zu rekonstruieren. In vollendetem Deutsch schreibt sie auf, was sie unter psychologischer Hilfe versteht und warum eine solche von hiesiger Psychologin nicht zu erwarten ist. Schließlich hat sie schon genügend Zeit bei ihr verbracht, um sich ein Bild davon machen zu können. Die Stationsärztin hält das offenbar für hochnäsiges Gewäsch, jedenfalls wischt sie es mit einer Geste unbeherrschter Abwehr vom Tisch. Die Schwester hingegen kann Helene wohl verstehen, versucht, noch einmal auszudeuten. Das hätte sie lieber nicht machen sollen. Ärzte haben es eben nicht gern, wenn in der Hierarchie weit unter ihnen rangierende Chargen etwas tun, was einem Belehren gleichkommen könnte, denkt Helene. Sie seufzt, sagt aber dann laut und langsam, dass sie nicht erst ab sofort mit der Psychologie, wie sie hier in der Klinik angeboten wird, abgeschlossen hat für sich. Die Ärztin will aufbegehren, murmelt etwas von» die längste Zeit hier gewesen«, gibt aber doch auf. Helene freut sich über ihr Starkbleiben. Und auf die progressive Muskelrelaxation, die jetzt auf dem Programm steht.Zu zehnt sitzen sie in dem kleinen, abgelegenen, ruhigen Raum, der Rollator steht an der Wand. Helene hat sich doch tatsächlich von Stuhl zu Stuhl bis zu einer freien Sitzgelegenheit gehangelt, ohne hinzufallen. Die Schwester, die hier als Therapeutin fungiert, schiebt einfach ein Kassettchen in einen Schlitz, aber für Helene, die autogenes Training beherrscht und früher schon Muskelentspannung betrieben hat, bedeutet das die immer gleiche Reise zu Frau Holles blühender Wiese mit Apfelbaum und Backofen. Sie landet dort, sobald sie sich fallen lässt. Nicht gerade in den Brunnen, aber doch weit unter die Krusten des Augenblicks, der schrundig zurückbleibt, während sie dort, in der Tiefe, wo es der Logik der Dinge nach dunkel und ungemütlich sein müsste, geschlossenen Auges in Wärme und Licht badet. Gern macht sie das. Sattelt ab. Ruht aus. Arme schwer, Beine träg. Beide gleich, kein Unterschied zu merken zwischen der gesunden und der lädierten Seite. Das genießt sie bis ins Unterbewusste hinein, und wenn es Zeit ist, aufzutauchen, so macht sie auch das entschlossen und zügig, aus alter Gewohnheit, obwohl der Zustand so schön ist, dass er niemals enden dürfte.Auch heute.
Auch heute wird Matthes kommen. Sie ist drauf und dran, ihn zu bitten, sich doch immer einen freien Tag zwischen die Besuche zu legen. Das wäre für sie gut, und für ihn wäre es ganz sicher ein wichtiger Schritt aus dem Karussell, in dem er wie ein Hamster rennt und rennt, sie kann sich kaum vorstellen, wie seine Tage aussehen, an denen er nach der Arbeit noch stundenlang S-Bahn und Bus fährt, um zu ihr zu kommen. Bis er da ist, wartet sie auf ihn. Wenn er dann aber da ist, steht das Unausgesprochene, dessen sie deutlich gewahr wird, ohne es in Worte wickeln zu können, groß und beunruhigend zwischen ihnen. Ob er das auch fühlt? Sie weiß es nicht, und sie weiß nicht einmal, ob das nicht viel beunruhigender ist.Im Kopf putzt sie Fenster. Geht in ihrem Haus in der Arberstraße von Zimmer zu Zimmer mit dem blauen Eimer in der Hand, öffnet die Fenster, wäscht sie erst von außen, dann von innen mit warmem Essigwasser ab. Poliert sie trocken mit alten Windeln. Muss wieder mal lachen, dass sie sich daran erinnert, was ihre Kinder gegessen hatten. Die echten Flecken auf den Windeln kann sie tatsächlich noch einzelnen Breisorten zuordnen, aber meist war eine Krankheit hinzugekommen. Bruno hatte einmal höllischen Durchfall gehabt und durfte nur Möhren pur essen — die Windeln sprachen noch jahrelang nur davon.Warum putzt sie im Kopf Fenster? Sucht sie die klare Aussicht, die ihr sonst fehlt? Von den Fenstern des Hauses kann sie nicht in die Ferne sehen. Vorn das Vorderhaus, hinten eine Grundstücksmauer. An einer Seite neben dem Eingang eine türgroße Scheibe zum Nachbargrundstück, auf den Zufahrtsweg zu ihrem Haus, auf der anderen Seite die Terrasse mit der Pergola, dem stark wuchernden Wein, der so gut schmeckt, dass ihr auf der Stelle das Wasser im Mund zusammenläuft. (Gestern hat Matthes davon mitgebracht, es ist noch eine Kleinigkeit da, die sie sofort in den Mund stopft.)Nein, die Aussicht ist es wohl nicht, nach der sie sich sehnt. Eher ist es vielleicht ein Versuchsballon, den sie steigen lässt: Ob sie sich vorstellen kann, zurückzukehren nach dort, in die alten Verrichtungen … Bisher war sie manches Mal in Gedanken von unten nach oben gewandert in ihrem Haus und wieder zurück, aber nie hatte sie etwas anderes getan, als sich die Zimmer zurückzuerobern, die Möbel, die Bücher, die Teppiche, die Bilder. Heute putzt sie Fenster — das ist, beschließt sie, der Beginn der Heimkehr. Und noch etwas beschließt sie: Sie wird das Hauptaugenmerk auf die Physiotherapie legen und die Entlassung auf jenen Tag, an dem sie keinen Rollator mehr braucht.Über Wochen hatte sie sich langsam, aber sehr sicher abgefunden mit einem Leben im Rollstuhl, und nun hat sie ein einfaches rollendes Gerät schleunigst davon überzeugt, dass viel mehr möglich ist. Dass sie wieder wird laufen können, vielleicht nicht so schnell, wie sie es gewohnt war, aber doch in angemessenem Tempo. Etwas wie Euphorie macht sich fläzig breit, Helene thront im Fenstersessel, als Matthes eintritt.Matthes sieht anders aus als gestern. Hat sein langes Haar nicht zusammengebunden, auch nicht gewaschen, aber das ist es nicht. Matthes sieht unsicher aus. Irgendwie schutzlos. Viel Widriges muss sich die Zeit entlanggeschoben haben bis zu diesem Gesicht. Sie kennt es und weiß, wie lange es braucht, um sich so zu verändern. Matthes tritt an den Sessel, sie steht auf. Er drückt sie, eine Spur zu heftig, zieht sich sofort wieder zurück und wickelt die Blumen aus, die er mitgebracht hat. Kein Wiesenstrauß, die Zeit mag ja auch vorbei sein. Drei Gerbera sind es. Blumen, von denen sie vor zwanzig Jahren behauptet hat, es seien ihr die liebsten. Das war zu einer Zeit, da Schnittblumen ein kaum beschaffbarer Luxus waren. Sie käme nicht auf die Idee, Gerbera heute noch als Lieblingsblumen zu titulieren, aber sie weiß nicht, ob es daran liegt, dass ihr mittlerweile an jeder Ecke die schönsten Sträuße hinterhergeworfen werden. Ob einfach das Alter es mit sich brachte, dass sie heute andere Favoritinnen hat? Glockenblumen zum Beispiel. Aber am liebsten von Matthes gepflückte, mit Klatschmohn gesprenkelt. Im Ikebana steht Gerbera für Traurigkeit. Wofür die Glockenblume steht, weiß sie allerdings nicht.Matthes tritt von einem Bein aufs andere.Sie ist tot, sagt er.