Выбрать главу

V. REFLEXE

HELENE WIRD WACH. DER MUND TUT WEH

Die Zunge scheint geschwollen. Billy ist bei ihr. Er lächelt auf seine unnachahmlich weise Weise. Helene möchte sich aufsetzen, sieht: den Tropf im Arm, das Gitter vorm Bett. Ein Versuch, sich zu erinnern, aber nur zerhackte Sequenzen. Die müssen doch schon Jahre zurückliegen! Jedenfalls kommt es ihr so vor … War sie hier nicht schon? Der große Raum, vier weitere Betten darin? Was ist los? Sie fühlt sich benommen, zerschlagen. Gebrumm in den Beinen wie nach langem Krampf. Die Rippen schmerzen. Jetzt, da sie etwas sagen will, spürt sie die Zunge riesengroß im Mund, ein voluminöser, kraftloser Lappen, den sie irgendwie nicht auswringen kann. Eine Schwester schaut vorbei, kündigt das Mittagessen an: Nudeln mit Käsesauce. Ihr ist aber gar nicht nach Essen! Billy versucht, sie zu beruhigen. Warum ist sie hier? Sie schaut nun einigermaßen verzweifelt ihrem Sohn in die schönen blauen Augen. Die Schwester kommt. Ein Tablett kommt. Die Schwester nimmt einen Löffel voll Nudeln, besteckgerechte Spirelli, tunkt ihn in Käsesauce und hält ihn Helene vor den Mund. Die will nicht.

Nu aber

aufmachen!

poltert die Schwesternstimme, und Helene ist so perplex, dass sie automatisch den Mund öffnet. Schon ist der Löffel drin, aber ein heftiger Würgereiz lässt die Nudeln einzeln aus dem Mund kullern. Die Schwester ist sauer. Da ermannt sich Billy und staucht sie zusammen. Dass man doch so nicht mit auf Gedeih und Verderb hierher verfrachteten Patienten umgehen könne! Dass doch zu sehen sei: Seine Mutter will jetzt nichts essen! So! Und so!

Der Würgereiz schwindet, Stolz breitet sich aus.

So!

sagt sie triumphierend.

Die Schwester zischt unverrichteter Dinge ab.

Kann mir mal jemand sagen, was ich hier will? Sie bringt die Frage einfach nicht heraus, das ist ja schlimmer als der Sprachverlust nach der Operation! denkt sie. Damals waren im Moment des Sprechenwollens meist auch die Wörter weg, während sie jetzt doch da sind, aber keines kann ihren Mund verlassen! Überhaupt steckt sie fest in einer Art Gallert, findet sie. Die Glieder kann sie nur gegen heftigen Widerstand bewegen, und Billys blaue Augen sieht sie verschwommen.

Du hattest einen epileptischen Anfall,

sagt er.

Einen schlimmen, der uns Angst machen sollte. Mir hat er aber keine Angst gemacht, ich wusste, dass du es schaffst.

Einen Tag später fährt sie, diesmal bei (zugegeben: pappigem) Bewusstsein, zurück nach Heidemühlen. Bill hat ihr den Hergang der Dinge erzählt, aber sie liegt seither wie im Prokrustesbett, das ihr gar nicht passen will. Von den Ärzten bis zur Oberkante Halskrause mit Valproat abgesättigt, geht das Denken nur langsam vonstatten. Sie versucht, sich während des Krankentransportes noch einmal einen Überblick zu verschaffen:

Vorgestern hatte sie Matthes besucht, und während seiner Anwesenheit war sie in einen Status epilepticus geraten, einen eigentlich lebensbedrohlichen Zustand unausgesetzten Anfallsgeschehens. Man hatte sie — Matthes ließ sich nicht abweisen und hatte darauf bestanden, sie zu begleiten — zunächst in das heute evangelische Krankenhaus von Henrichshorst gebracht, wo sie vor fast zwanzig Jahren gearbeitet hatte. Man hatte dort versucht, den Grand-mal-Anfällen mit einer Faustan-Injektion zu begegnen, aber ohne Erfolg. Matthes hatte dann verlangt, dass man sie noch in der Nacht ins Unfallkrankenhaus nach Berlin fuhr. Dort lagerten nicht nur ihre Operationsunterlagen, sondern man konnte sich ihrer auch gut erinnern und verfügte über ein breites Diagnostikspektrum. Matthes hatte befürchtet, erneut wäre ein Aneurysma geplatzt, oder es wäre zu Nachblutungen gekommen. In Berlin war er nicht von ihrer Seite gewichen. Die Ärzte hatten sich entschlossen, Valproat zu infundieren, um den Status aufzulösen und neuen Anfällen vorzubeugen. Sie hatten bedauert, wegen ihres Herzschrittmachers keine Magnetresonanztomografie durchführen zu können, waren auf eine Computertomografie angewiesen. Zum Glück aber hatte sie keine Anzeichen auf eine erneute Ruptur erbracht, sodass man sie in die neurologische Station verlegt hatte, eine Etage unterhalb der

stroke unit

Deshalb hatte sie sich gleich nach dem Erwachen auf bekanntem Terrain gewähnt — kein Déjà vu! Billy hatte es doch tatsächlich geschafft, Matthes hinterherzutelefonieren: In Aufregung, weil er nicht zurückgekommen war nach Hause, hatte er in Heidemühlen angeklingelt und dort von der Überstellung nach Henrichshorst erfahren. Immer noch beunruhigt, weil Matthes ausblieb, hatte er in Henrichshorst gegen Mitternacht angerufen, gerade war der Transport nach Berlin auf den Weg gebracht worden, und schließlich war er leibhaftig im Unfallkrankenhaus erschienen, um Matthes abzulösen und am Bett seiner Mutter bis zu deren Erwachen auszuharren. Matthes hatte ihn umarmt (etwas, was vor Kurzem noch undenkbar gewesen wäre, denn die Distanz zwischen ihren Söhnen und ihm hatte über die Jahre eher zu- denn abgenommen, Bill hatte ihr ziemlich gerührt davon erzählt) und war dann völlig übermüdet nach Hause gefahren. Sie hatte schließlich auch den Sohn nach Hause geschickt, war schachmatt gewesen, hatte eigentlich nur noch schlafen wollen. Aber kaum war sie eingedöst, kam auch schon eine ganze Mannschaft. Die hatte es in sich. Ein bebrillter Arzt mit zwei vorstehenden oberen Schneidezähnen hatte mit einem Zettel gewedelt, den sie unterschreiben sollte. Darauf stand, dass sie bis auf Weiteres nicht selbst Auto fahren, nicht allein in öffentlichen Gewässern baden dürfe und riskante Aktivitäten wie Bergsteigen zu meiden hätte. Sie hatte gelacht. In ihrem Zustand war an all das ja ohnehin nicht zu denken! Mit Gesten hatte sie darauf verwiesen, dass sie im Moment schlecht sprechen konnte. Dass sie benommen war. Eine Unterschrift konnte sie einfach nicht leisten. Sie wollte auch nicht, solange sie sich nicht bei klarem Verstande fühlte, aber das sagte sie natürlich nicht, sie hätte es ohnehin nicht gekonnt. Das Gefühl, dass der Arzt verärgert war wie die Mittagsschwester, wollte nicht weichen, aber ihren Magen bedrückte es nicht, sondern war dabei, sich zu einiger Selbstsicherheit aufzublasen. Sie hielt es unter der Hand für möglich, dass irgendetwas mit spitzem Grat daherkam und sie wieder platzen ließ, bemühte sich aber, über der Hand keinen Gedanken daran zu verschwenden.