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Was soll das?

Die Frage blubbert, Speichelbläschen platzen.

Matthes beantwortet sie, zögerlich.

Ja, er hat den Dr. Müller heute früh gebeten, ihr einen Krankenbesuch abzustatten. Matthes glaubt nicht an Epilepsie als Krankheit. Was vor zwei Tagen passiert ist, war als Reaktion bei vorgeschädigtem Hirn zu erwarten gewesen, wenn auch nicht in diesem Ausmaß. Immerhin war beim Platzen des Aneurysmas Blut ausgetreten, das garantiert noch nicht vollständig resorbiert worden ist. Die Anfallbereitschaft war schon durch die gut leitenden Eisenteilchen des Blutes gegeben, aber das auslösende Ereignis sei von erheblicher Wucht gewesen.

Wucht.

Das Wort geht um. Beinahe kann sie ihm zusehen bei seiner Wanderung durch die Windungen der Großhirnrinde. Andere Wörter reißt es mit, reißt sie schmerzhaft aus ihren Abteilen: Wacht. Flucht. Sucht. Macht. Schlucht. Schlacht. Unangenehme Wörter, allesamt. Sie will sie irgendwie daran hindern, Maljutka Malysch aufzufinden, aber sie sind schon nahe daran, sie aufzustören. Ein, zwei Kreiselbewegungen noch, dann sind sie angekommen und zerren Maljutkas Tod aus dem Ablagefach. Die Wucht schlägt zu. Matthes steht auf Wacht. Keine Flucht möglich. Maljutka war eine Sucht, die mit Macht Besitz ergriffen hatte von ihr. In der Schlucht der Ohnmacht hatte sie daran nicht denken müssen, die Schlacht war geschlagen worden ohne sie. Mit welchem Ergebnis? Maljutka ist tot. Jetzt, da die Augen ausgeweint sind, die Sinne halbwegs lahmgelegt, traut sie sich, nachzufragen.

Fragt nach.

Matthes antwortet.

Eine Schicht Wachs splittert auf seinem Gesicht, als er spricht, Stückchen davon krümeln ab, auf den Boden. Er hat einen Brief mit schwarzem Rand geöffnet, der für Helene bestimmt war. Versehentlich, wie er sagt. Sie glaubt ihm, hat keinen Anlass, daran zu zweifeln, zumal die Namen der Absender keine Assoziationen in ihm ausgelöst haben dürften: Maljutkas Söhne Tim und Tom, nicht Malysch, hätten eine Todesanzeige geschickt. Auf Matthes’ Nachfrage hätten sie mitgeteilt, dass das Adressbuch ihres Vaters nur wenige Anschriften enthalten hätte. Die von Helene Missbach wäre von einer roten Schlangenlinie eingefasst gewesen. Auch den Mailwechsel von Helene und ihrem Vater Viola hätten sie auf ihrem Computer gefunden und wären daraufhin von einer engen Beziehung ausgegangen, zumindest bis zum Mai dieses Jahres, als ein plötzlicher Abbruch stattgefunden haben musste. Jedenfalls hätten sie es für besser gehalten, die wenigen Personen im Adressverzeichnis vom Tod ihres Vaters Viola Malysch in Kenntnis zu setzen.

Das erzählt Matthes, und Helene sieht ihm die Not an, es tun zu müssen und es kaum zu können. Dennoch blubbern weiter Fragen.

Wie ist sie gestorben?

Matthes erzählt, als sei er dabei gewesen.

Ungefähr so: Die Jungen standen (

seit wann? seit Mai!)

wieder in Kontakt mit ihrem Vater. Jenseits der Volljährigkeitsgrenze hatten sie sich der Mutter widersetzt und Viola gesucht. Nein, aufgesucht. Die Rührung verschlug auch ihnen die Sprache, als ihr Vater nicht sprechen konnte vor Aufregung. Immer wieder rollte er ihre Köpfe in seine Arme ein und nahm sie zur Brust. Da war mehr Brust, als sie sich von ihrem Vater hatten vorstellen wollen, aber das machte ihnen in diesem Moment nichts mehr. Von da an kamen sie wieder und wieder. Zum Erzählen. Sie sprachen sich leer für Augenblicke, aber immer rollten Wogen Erzählstoffs nach, und auch Viola versuchte, sich wieder ins Bild zu setzen, das sich die Söhne von ihrer Kindheit machten. Oft schliefen sie bei ihrem Vater, den sie weiter Vater nannten im Erzählen, aber mit seinem Violanamen anredeten, eine Selbstverständlichkeit wurde das, die ihnen gar nicht mehr auffiel. Viola gab ihnen schließlich einen Schlüssel zu ihrer Wohnung, weil sie manchmal spät noch eintrudelten, wenn sie in Potsdam unterwegs gewesen waren und nicht mehr nach Hause kamen. Den ganzen Juni über waren die Jungen dann in Frankreich. Als sie Anfang Juli zurückkamen, wunderten sie sich schon an der Treppe zu Violas Wohnung über den überquellenden Briefkasten. Im Schlafzimmer fanden sie sie, im Bett, schön zugedeckt, als sei ihr kalt gewesen. Tim wollte nicht glauben, dass sie sich verabschiedet hatte. Tom hatte andere Augen, er sah die Verwesung, die sich in ihrem Gesicht zu schaffen machte. Eine andere Nase hatte er offenbar auch.

Der Arzt ordnete eine Obduktion an, aber die Suche nach einer Todesursache gestaltete sich schwierig. Viola schien, wie man sagte,

sanft entschlafen

zu sein, einfach so. Man einigte sich auf Herzversagen und legte den Todestag auf den 23. Juni. Violas Leichnam wurde zur Bestattung freigegeben. Die Söhne machten sich daran, den Nachlass zu ordnen und die Wohnung leer zu räumen, und sie schrieben jenen, die sie für Freunde ihres Vaters hielten. Sechs Briefmarken brauchten sie dafür.

Matthes sieht auf die Uhr.

Es geht auf sechs …

Das Fläschchen mit den Kügelchen zieht er aus der Tasche und schaut Helene an. Die fragt nicht weiter und nimmt eines, lässt es sich auf der Zunge zergehen.

Zucker.

Von den Ergenyltabletten nimmt sie eine weniger.

Zwei Stunden später: Das Wasser ist weg.

Unfassbar. Hat sich aus den Beinen davongemacht, dauernd musste sie pinkeln, ist mit dem Rollator wackligen Schritts zur Toilette gegangen. Dieser Dr. Müller ist ihr ein Rätsel. Eines, das größer und bunter wird mit den Stunden, die seit seinem Auftauchen hier vergangen sind. Trägt keine dunkle Lederjacke, sondern irgendetwas Farbiges, Indisches, keine schwarze Baske, sondern eine Jamaika-Mütze, schwarz-grün-rot, mit stilisiertem Häkelhanfblatt obenauf. Ihre pralle Füllung verdankt sie dem Riesenpaket Rastalocken auf seinem Kopf. Ja, so wird schon eher der Guru aus ihm, dem sie sich anvertraut hat. Halt, eigentlich stieg das Ding über ihren Kopf hinweg: Matthes hat sie ihm anvertraut, der rationale Skeptiker, dem Zweifel an allem über alles geht! Da muss der Zweifel der Verzweiflung aber unterlegen gewesen sein, überlegt sie. Verzweiflung hat auch in ihr obsiegt, zeitweise. Maljutkas Tod ist schlurfender Schmerz, der überallhin mitkommt, alles tüncht, allem seinen Ton aufzwingt, ohne etwas verschwinden zu lassen dahinter. Das ist schwer zu ertragen. Matthes muss das wissen, sie erinnert sich auf einmal an seine unsichere, hilflose Miene, als er ihr die Nachricht überbrachte. Ihr dämmert, dass er deswegen nicht im Konjunktiv erzählt hat, weil Maljutkas Söhne Matthes sehr gegenwärtig gewesen waren. Hat er sie besucht? Sind sie in die Arberstraße gekommen? Unruhe erfasst sie: Matthes hat ihr etwas voraus, er kennt Maljutkas Söhne, einen Moment lang will sie das ungerecht finden, besinnt sich dann aber ihrer Lage. Die Umstände, unter denen sie hineingeraten ist, bleiben ihr unklar, aber da sie nun einmal drin ist, nimmt sie es als gutes Zeichen, dass Matthes verstehen will. Versteht Matthes? Was? Zum ersten Mal kommt ein Gefühl in ihr auf, worüber zu reden sein würde mit ihm, und zum ersten Mal stellt sie sich vor, es zu tun.

Ein Anflug von Spannkraft.

Sie wird das durchziehen. Ergenyl schlucken nach Heilpraktikerplan. Den Rehaärzten nichts vom Ausschleichen sagen. Die Tabletten in einer Tüte verstecken, nicht in der Toilette hinunterspülen. Lieber gibt sie sie am Ende ihres Aufenthaltes zur Entsorgung ab.

Im Einschlafen ruft ein Muezzin.

Jedenfalls glaubt sie das.

Hat sie Matthes überhaupt gebeten, sich einen Tag Ruhe zu genehmigen zwischen den aufreibenden Besuchen bei ihr? Sie weiß, dass sie es wollte. Ob aber Zeit dafür war, weiß sie nicht. Matthes kommt nach wie vor täglich. Gestern hat er berichtet, am Wochenende an Violas Grab gewesen zu sein und eine Staude gepflanzt zu haben. Wenn der Schmerz nicht schlurfend den Vorhang geschlossen hätte, wäre sie wütend geworden, hätte es als ihr Vorrecht einklagen wollen, Blumen ins Grab einzubringen. Sich über so etwas aufzuregen … Aber nimmt er ihr wirklich alles ab? Muss er tatsächlich zum Grab der ihm fremden Frau fahren, um so zu tun, als hätte er in irgendeiner Beziehung zu ihr gestanden? Er hat sie doch kaum gekannt, wenn man vom einmaligen Besuch in der Arberstraße absieht. Oder? Unsicherheit. Etwas zieht an ihr. Zieht sie tiefer ins Bett, als ihr lieb ist. (Dabei ist es Zeit, aufzustehen. Mittagsruhe vorbei.) Das Herzchen wählt die schnellere Gangart, sie merkt sofort, wenn die vom Schrittmacher eingestellten sechzig Schläge pro Minute sozusagen freiwillig überschritten werden. Eigentlich schön, dass das gelegentlich vorkommt, ohne dass sie sich anstrengt. Ohne körperlichen Einsatz. Sie lebt noch in ihrem Körper, eines hängt mit dem anderen zusammen, trotz der sich mehrenden Metallteile in Kopf und Brust. Ohne die wäre sie vermutlich