Die Angst hört nicht auf die freundliche Begrüßung. Sie kommt gleich zur Sache. Steht mit einem Vorschlaghammer in der Zimmerecke, bereit, zuzuschlagen.
Sie kommen auf Station
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, Ihr Bett wird gebraucht.
Erleichterung. Natürlich, verlegen bedeutet ja nicht nur verschusseln und verschlampen, sondern auch, jemanden den Ort wechseln zu lassen. Eigentlich unfreiwillig, oder?
Der Hinternabwischer kommt mit einem Rollstuhl. Sie wird hineingesetzt und aus dem Zimmer gefahren. Die plötzliche Wärme überrascht sie. Warum ist es jenseits der Türen so kalt, wenn draußen der schönste Sommer herrscht?
Der Hinternabwischer karrt sie zwei Gänge auf und ab, damit sie die Station noch einmal sehen kann, und fährt eine Schleife zum Personalzimmer.
Abschied.
Sie versucht, freundlich zu gucken, aber der Gedanke an Abschied treibt ihr seltsamerweise Tränen aus den Augen.
Ach Mööönsch, Frau Wesendahl, seien Sie froh, es geschafft zu haben! Drei Wochen Intensivstation sind doch wirklich genug!
Intensivstation?
Wieder hört sie es beinahe rattern in ihrem Kopf. Sie überlegt, warum sie hier gewesen sein könnte, kommt aber zu keinem Ergebnis.
II. SCHATTENRISSE, SILHOUETTEN
SIE HAT GUT GESCHLAFEN
So ohne Schläuche ist es schön. Zweimal hat sie aber schon vergessen, die Schwester zu rufen, obwohl der Knopf gleich neben der linken Hand auf dem Bettrand liegt. Nass ist es geworden im Bett. Am Anfang fand sie es angenehm warm. Nun muss sie aber aufpassen, sonst legen die womöglich wieder einen Schlauch in ihre Blase.
Neben dem Bett steht der Rollstuhl. Wenn sie zur Toilette möchte, geht das nicht allein. Eine Schwester kommt, setzt sie hinein, fährt sie hinüber, setzt sie auf die Brille, wartet, wischt ihr den Hintern ab, zieht ihr den Schlüpfer hoch, das Nachthemd wieder runter, fährt sie zurück.
Manchmal wird ihr schlecht, wenn man sie aufrichtet.
Manchmal kommt auf dem Klo nichts. Das passiert, wenn ein Pfleger danebensteht. Sie kann einfach nicht in Gegenwart eines Mannes pinkeln oder kacken. Es verfliegt. Sie fragt sich, ob der Körper es aufsaugt. Absorbiert.
Im Augenblick, da sie das Fremdwort» absorbiert «denkt, rutscht die Plane von einem anderen Fremdwort: Aphasie! Ohne Sprache!
Sie muss lachen, dass sie es für sich mit» Anfang sieben«übersetzt hat.
Achthundertundneunzehn minus vierhundertzweiundfünfzig? Dreihundertsiebenundsechzig. Richtig? Ja.
Sie liegt in einem Dreibettzimmer. Allein.
Allerdings rumpelt es jetzt im Eingangsbereich. Eine Frau wird hereingefahren. Sie bekommt das Bett am Fenster. Das hätte sie auch sehr gerne gehabt. Freundlich nickt sie der Frau zu. Die lächelt.
Hört aber nicht auf zu lächeln.
Ihr Lächeln sieht aus wie mit spinnwebfeiner Angelsehne fixiert. Sie sucht nach Löchern in den Mundwinkeln, durch die man eine doppelte Sehne gefädelt und die Schlaufe hinter den Ohren herumgeführt hat. Jetzt merkt sie endlich, dass sie keine Brille aufhat.
Bille
, sagt sie laut,
Bille
.
Noch immer kein R.
Billebillebillebillebillebillebille.
Das hat nicht sie gesagt, sondern die Frau.
Die Schwester kommt, um sich mit der Frau bekannt zu machen.
Guten Tag, Frau Schröder!
Frauschröderfrauschröderfrauschröder!
Warum wiederholt die Frau, was die anderen sagten? Hat das mit Echolalie zu tun?
Sie ist heilfroh, dass ihr manchmal Fremdwörter zur Verfügung stehen.
Außerdem ist ihr vorhin eingefallen, was ihr die Töchter unters Kreuz ziehen sollten, als sie da waren: das Kopfkissen natürlich.
Sie packt das Kopfkissen mit der linken Hand und schiebt es zu einem dicken Knäuel auf.
Gute Nacht.
Gute Nacht
war natürlich unpassend. Es ist erst Mittagszeit. Sie wird aus dem Schlaf gerissen und gefüttert. Noch immer mit Brei, aber der sieht nicht mehr so hellbraun aus wie die Sondennahrung. Heute ist es Kartoffelbrei. Sie schiebt den Kopf zur Seite, wenn die Schwester den Löffel in braune Soße getunkt hat. Verbundnetzsoße haben sie früher dazu gesagt. Die Schwester versteht erst beim dritten Mal, dass sie keine Soße will.
Warum hat sie ihr das eigentlich nicht gesagt?
Soße nicht!
Ich hab ja schon verstanden,
lacht sie.
Schon?
In ihrem Schälchen fehlt die große hellblaue Pille. Das freut sie. So könnte es weitergehen. Seitdem die Pille fehlt, ist sie wiederum länger wach.
Heute hat man die Panzersperren aus dem Schädel gezogen. Sie hat nichts gemerkt. Es waren gar keine Panzersperren, sondern Metallklammern. Man scheint sie am Kopf operiert zu haben. Warum? Keine Ahnung. Als sie sich auf die Toilette schieben lässt, ist sie begierig auf einen Blick in den großen Spiegel. Bislang hat sie den nicht einmal bemerkt! Darüber wundert sie sich.
Das ist sie. Nichts zu deuteln. Auf der linken Schädelhälfte fehlen die Haare. Nein, das stimmt nicht ganz: Zwei, drei Millimeter sticht das neue Haar hervor. Eine feine rote Linie zieht sich vom Haaransatz in der Stirn in hohem Bogen bis vors Ohr. Beidseits der Linie von vielleicht fünfzehn Zentimetern Länge sind dicke rote Punkte zu sehen. Sie rühren von den Klammern her und erinnern an abgehackte Alleebäume, deren Stümpfe nur knapp aus dem Boden ragen. Ein Stumpf hat sich entzündet, er schmerzt.
Interessant, muss sie denken.
Broca-Aphasie, denkt es sie plötzlich.
Als Matthes kommt, versucht sie es. Sie versucht ihm zu sagen, dass sie Literatur über Aphasien haben möchte. Matthes sagt dazu nichts. Hat er sie nicht verstanden? Bestimmt ist es nicht zu verstehen.
Matthes trägt keinen Verband mehr über dem Auge. So jung sieht er aus! Die Zeitung hat er mitgebracht, sie will sie ihm begierig aus der Hand reißen. Zehnter August! Sie ist schon länger als einen Monat hier. Das ist nun wirklich nicht zu fassen.
Muss sie sich darüber wundern, dass sie relativ gut rechnen kann und sich immer wieder selbst Aufgaben stellt? Kopfrechnen übt? Ach was, sie beschließt, sich lieber nicht darüber zu wundern.
Stattdessen wartet sie. Darauf, dass irgendetwas passiert. Hier passiert nichts. Niemand kommt, um mit ihr herumzuturnen. Auf der Intensivstation hat die Dunkelhaarige sie mobilisiert. Das heißt, sie hat versucht, sie zu mobilisieren. Hier dagegen?
Du liegst jetzt den dritten Tag hier
auf der Inneren
, hat Matthes vorhin gesagt, v
öllig falsch
Er versucht offenbar, sie woandershin zu bekommen. Wohin, hat sie nicht verstanden.
Die Tür geht auf. Eine junge Frau kommt herein, stellt sich als Physiotherapeutin vor. Na endlich! Eben noch wäre ihr das Wort» Physiotherapeutin «nicht eingefallen, aber in dem Moment, da die Frau es ausspricht, ist es wieder verfügbar. Sie möchte Wörter hören. Stattdessen packt sie die Physiotherapeutin in den Rollstuhl und fährt sie hinaus, hinunter, über den Hof, in ein andres Haus. Sie kommen in einem großen Sportraum an.
Sie müssen unbedingt hierher verlegt werden!
sagt die Physiotherapeutin.
Was ist hier?