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besonders

weibliches

Aussehen bescheinigt: breite Hüften, schmale Taille — Birne eben. Im Gesicht fallen die vollen Lippen auf. Matthes, wenn er zwei Gläser Wein getrunken hat, meint, er habe vom ersten Augenblick an zubeißen wollen. Wie sah Maljutka Malysch aus? Im Normalzustand, in dem sie sie kennengelernt hatte, ziemlich eindeutig männlich. Im Ausnahmezustand erreichte sie die Anmutung eines geschminkten, auf weiblich getrimmten Mannes. Ja, es waren Spuren der Gewalt, die verunsicherten. Die Gewalt, das Gesicht überaus sorgfältig zu rasieren und die Poren mit einer Make-up-Schicht zu schließen, damit nicht der Anschein eines nachwachsenden Haares sichtbar wurde. Die Gewalt, sich in klein aussehende Stiefelchen zu zwängen und den Schritt kurz zu halten. (Dabei hatte sie so schöne Beine gehabt.) Die Gewalt, in Brust-raus-Bauch-rein-Pose möglichst leichtfüßig einherzutänzeln und das Haar mit einer gekonnten Bewegung aus dem Gesicht zu streichen. Die Gewalt, die eigene Stimme, erfolglos, etwa um eine Oktave nach oben zu hieven. Leidgetan hatte ihr Maljutka Malysch in dieser Gewaltorgie, der sie sich an jenem Freitag im letzten November unterworfen hatte, und dass sie es einen Tag später aufgegeben hatte, hatte mit Sicherheit Helenes Erleichterung zur Folge gehabt. Maljutka war nicht erleichtert gewesen. Sie hatte am Freitag angestrengt jung ausgesehen, bemalt, wie sie war, mit gefärbtem, zusammengebundenem Haar. Am Samstag war sie zunächst zurückgealtert, mit müdem, faltigem Gesicht hatte sie, beinahe ungeschminkt, in der Krummenseer Kneipe gesessen, bis am Abend beim Altlandsberger Italiener ihr Alter keine Rolle mehr gespielt hatte, Helene hatte es nicht mehr gesehen unter den voller werdenden, sich auf natürliche Weise rötenden Lippen. Maljutka hatte erzählt. Sich einfach fallen lassen und aller Gewalt abgeschworen. Sie war zu sich gekommen, für einen Abend, ehe sie am nächsten Tag schnell und umstandslos verschwunden war, als hätte sie sich dafür entschuldigen müssen.

Ein Mümmelgreis legt seinen Kopf auf ihre Schulter. Erschrocken stellt sie die Teetasse ab, verschluckt sich. Es dauert, bis das Erstickungsgefühl vorbei ist. Eines der Servicemädchen hat ihr ein paarmal auf den Rücken geschlagen. Tränen laufen, und sie lacht darunter, lacht, dass die Greise einstimmen. Nun sitzt sie nicht mehr im Schweigen, sondern am lustigsten Tisch im Speisesaal.

Wie verschenkt man eigentlich am besten Glauben?

Zu Hause entspannt sich die Lage, wenn sie Billy Glauben schenkt. Wenn sie aber Matthes Glauben schenkt, ist es nach wie vor hart und aufreibend. Das sagt Matthes nicht. Matthes sagt eigentlich nichts anderes als Billy, doch sein Gesicht spricht dagegen.

Bill hat erzählt: Mit Bengt haben sie sich im Familienrat darauf verständigt, dass es besser ist, wenn er kein Urlaubssemester einlegt. Es läuft verlässlich, und wenn Helene in absehbarer Zeit nach Hause kommt, könnte es eng werden in der Arberstraße, sie braucht Ruhe und wird durch Bengts Üben womöglich gestört. (Lauter Protest,

niemals!

) Billys Gesicht: gelöst, entlastet.

Matthes hat erzählt: Familienrat, mühselig einberufen im Terminwirrwarr der zu Beteiligenden, hat sich nach langer Diskussion mit Bengt darauf geeinigt, dass er lieber weiterstudiert, sonst wird es zu eng in der Arberstraße. (Keine Idee, wie dagegen zu protestieren sei.) Matthes’ Gesicht: duldend, das Geplagtsein versteckend.

Eigentlich keine Frage, wem sie lieber Glauben schenkt. Nur wie?

Sie übt. Den Arm zu heben. Die Physiotherapeutin hat sie auf den Boden gelegt, auf den Rücken gedreht. Sie bekommt in die linke Hand wieder den Stab, klammert die rechte, so fest es geht, darum. Dann fasst die Therapeutin rechts zu, hilft so der linken Hand, den Stab hoch über den Kopf zu heben. Der rechte Arm macht mit. Aber alleine? Nach zehn Übungseinheiten soll er es versuchen. Immer noch ist er ein Fremdling, scheint nicht zum Körper zu gehören. Sie strengt sich so sehr an, ihm ihre Befehle zu erteilen, dass ihr Kopf rot wird und die Therapeutin alarmiert Einhalt gebietet. Vielleicht hat sie Angst, dass der entstehende Druck das Aneurysma erneut öffnet? Das geht nicht. Helene möchte sie beruhigen, sie ist doch geclipt! aber der Körper zittert allein schon unter der Vorstellung einer Blutung. An Sprechen nicht zu denken. Die Therapeutin hält das Zittern ihrerseits wohl für eines der Anstrengung, aber das ist es nicht. Sie hilft ihr auf,

jetzt wollen wir aber auf den Schreck erst mal ein Stückchen laufen!

, und lässt den Rollator beiseite.

???

Doch, doch, heute mal ohne!

, die fünf Worte sind alles, was sich dazu aus ihrem Mund bequemt. Linker Arm der Therapeutin um Helenes Hüfte gelegt. Der rechte Arm der Therapeutin zuckt jedes Mal, wenn Helene den rechten Fuß aufsetzt, bleibt aber an seinem Platz auf ihrem rechten Oberarm. Sie muss lachen. Denkt an Pietro, den Schauspielerfreund. Einer seiner bei den damals noch kleinen Kindern beliebtesten Sketche war der von der Schwungrad-Elli: In geradem Lauf knickte ein Bein immer sehr plötzlich ein, fing sich aber, ehe Pietro hinfallen konnte, um beim nächsten Schritt schon wieder wegzusacken. An lauen Sommerabenden hatten sie unter der erhabenen Kastanie vor seinem Häuschen in der Nähe von Anklam gesessen und sich nicht mehr halten können vor Lachen, als die Kinder versuchten, diesen Gang zu imitieren.

Schwungrad-Elli

, sagt sie lachend, und auch die Therapeutin prustet los. Nach zwanzig Metern hin und zwanzig Metern zurück darf sich Helene wieder auf die Matte legen. Ein letzter Versuch. Sie schickt den Befehl mit aller Kraft in den Arm und versucht, den Kopf von der Anstrengung auszunehmen. Allen Druck in den Arm geben. Allen. Los. Los! Sehr langsam, sehr langsam erhebt er sich, kommt aus dem Knick, im wahrsten Sinne, er schafft, er schafft es tatsächlich, sich aufzurichten!

Na ja, fast.

In dem kleinen Dorf bei Anklam hatten sie oft Ferien gemacht. Hier am See erinnert manches an damals: Die hohen Bäume mit Feuerstelle darunter, die Stille am Wasser, man kann alle Flausen auf und davon gehen hören aus dem eigenen Kopf. Ein weiter Acker ist der See, der von einem unterirdischen Pflug umgegraben wird, Streifen für Streifen, sie fragt sich, was dort keimen wird, Kartoffeln? Wintergerste? sie sieht ihn in wogendem Grün und verspürt tiefe Freude, auf einmal! noch am Leben zu sein, sich etwas vorstellen zu können, das die Wirklichkeit auf eine beinahe lieblich zu nennende Weise fortschreibt, sie im Wachzustand in den Traum wippen lässt, hin, zurück, wieder hin — das Glück hat mehr als fünf einfache lateinische Buchstaben und meint es gut mit ihr. Auch damals hatte sie sich in der sommerlichen Gewissheit gesonnt, dass das Glück zugelangt hatte. Mit den vier Kleinen waren sie oft im Juli, August hinaufgefahren, tagsüber nach Usedom auf die Insel gepilgert, zum Baden, zum Sonnen, alles war unangestrengt und einfach gewesen für ein paar Wochen. Im Sommer ’89 hatten sie dann täglich vor der Kiste gehockt und die Nachrichten gesehen, die Leichtigkeit war dahin, irgendetwas würde passieren. Dass sie so schnell gefordert sein könnten,

den Laden zu übernehmen

, wie sie es ausdrückten, damit hatten sie nicht gerechnet und befanden sich in einem Zustand der Fiebrigkeit, des Nervenkräuselns. Mareile war zwischendurch zu windeln, die anderen drei forderten Badefahrten ein. Sie teilten es sich, einer blieb immer mit Mareile im Haus, der andere fuhr an die See. Hätten sie gewusst, wie es sich ein oder zwei Jahre später eingeebnet hatte, ohne dass sie auch nur einmal wirklich nahe daran gewesen wären,

den Laden zu übernehmen

, hätten sie sich die Aufregung klemmen und bei der Tagesordnung bleiben können.