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Die späteren Sommer waren anders gewesen. Der Dorfkonsum schloss. Ein Auto musste her. Zunächst kaufte Pietro einen alten VW. In Ducherow öffnete ein Supermarkt nach dem anderen, sie verbrachten viel mehr Zeit mit dem Einkauf, zu dem man nun eine richtige Ausfahrt veranstalten musste. Das Leben im Dorf verschlierte zusehends, die LPG schloss, stattdessen versuchte ein Investor, eine Agrar GmbH zu installieren — mit zwölf Mitarbeitern, wo doch zuvor nahezu alle sechzig Familien von der LPG gelebt hatte. Andreas, der während Pietros Abwesenheiten nach dem Haus sah, hatte als

Mädchen für alles

in der LPG gearbeitet, war als Springer hier und dort im Einsatz und, ja! wichtig gewesen. Von einem auf den anderen Tag wurde er unwichtig. Den Veränderungen stand er hilflos gegenüber, ließ sich von einer Baufirma aus Lübeck anlocken, montags in aller Herrgottsfrühe abholen und freitags spät zurückbringen im Kleinbus. Er schuftete weit unter Tariflohn, von dem er keine Ahnung hatte. Als er dennoch arbeitslos wurde und es über ein Jahr lang auch blieb, gab er brav seine gesparten

10000

DM an. Die müsse er zu guten Teilen erst aufbrauchen, hieß es, ehe die Arbeitslosenunterstützung griffe. Er soff sich davon zu Tode. Verstand nichts mehr. In der zweiten Hälfte der

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er waren sie ein paarmal an seinem Grab gewesen, hatten Gänseblümchen oder Veilchen ins Wasser gestellt. Helenes Geburtsjahrgang. Erschrocken hatten sie die vielen Gräber Gleichaltriger gesehen (sie zählten: zehn!), in den Fünfzigerjahren Geborener, mehr Männer als Frauen, als hätte hier eine ganze Generation sich verabschieden wollen. Der Suff hatte zugelangt, die Dorfkneipe hatte nach wie vor Konjunktur. Es gab nicht mehr viele Kinder. Die es gab, schielten. Helene musste das Wort

Inzucht

denken, hätte sich ohrfeigen wollen dafür. Die Tage waren anders gewesen als in den Achtzigern: Wer von den Männern nicht beim Bier hockte, tauschte etwas wie Worte mit dem Nachbarn übern Gartenzaun, es sah so aus, als wären sie sich einig geworden, die Münder ebenso langsam zu bewegen wie ihre Körper: Ein Schlurfen und Lungern überall, als brächte jede unnütze Bewegung sie unnötig auf, sie ließen sich nicht mehr ein auf lange Gespräche, es war, als wäre irgendein Ende allen präsent und sie in Angst erstarrt, es auszusprechen. Sie war mit Matthes seltener hinaufgefahren seit den Neunzigern, hatten das vor sich selbst mit dem Größerwerden der Kinder, mit ihren nun anders gelagerten Urlaubsinteressen und — möglichkeiten gerechtfertigt (Italien! Portugal!), aber eigentlich war es das Dorf gewesen, dessen gespenstischer Anmutung sie sich hatten entziehen wollen. Ähnlich wie die Dörfler selbst, die unter dem Eindruck des von allen geahnten Endes erstarrt schienen, hatten sie nicht mehr hinsehen wollen, wie es sich dort totlief. Wie sich ein Dorf, Andreas voran, aus dem Leben trank inmitten herrlich blühender Landschaften, Rapsfelder, Kartoffeläcker, Wiesen und Weiden, die keine Leute mehr brauchten, um in voller Blüte zu stehen. Einfache Leute waren es, die hier lebten, in ihren Gesprächen ging die Welt im Fernsehformat ein und aus, wer gespart hatte, hatte gerade genug für die eine große Reise, mit dem Bus an den Gardasee, und wenn er zurück war, freute er sich nicht einfach, sondern machte so weiter mit dem Schlurfen. Jetzt kann Helene dieselbe Traurigkeit spüren wie in den

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er-Jahren, wenn sie ans Dorf dachte, das bei ihnen immer nur

das Dorf

hieß, seit Jahrzehnten inzwischen. Die Straße in das abgelegene Kaff war gleich nach der Wende endlich erneuert worden. Landmaschinen fuhren kaum noch hier entlang, sie nahmen Wege übers Feld, und manchmal hatte sie Frauen mit Fahrrädern gesehen, die ihre Einkäufe herbuckelten, die Räder behängt, die Schultern nicht minder. Der Bus nahm die Schleife ins Dorf nur noch alle zwei Tage, sodass sie, wenn sie zwischendurch einkaufen wollten, mit dem Rad zur Überlandstraße fahren mussten, vielleicht vier Kilometer. Dort schlossen sie die Räder an und nahmen den Bus nach Ducherow, später zurück. Wieder aufs Rad. Helene hatte überlegt, dass sie kein Geld für einen Führerschein hatten, kein Geld für ein Auto. Oder aber ihre Männer hatten ein Auto im Hof stehen, waren aber zu besoffen, um fahren zu können. Frauen ab vierzig lebten noch hier, die Jungen waren fast alle weg. Wollten nie zurück. Das Dorf würde über kurz oder lang aussterben, Andreas’ Vater hatte seinen Sohn um ein halbes Jahr überlebt. Andreas’ Schwester hatte Haus und Hof geerbt und bemühte sich redlich, einen Käufer dafür zu finden. Erfolglos. Sie selbst wohnte mit der Familie in Anklam, wo sie als Sachbearbeiterin in der kommunalen Verwaltung arbeitete. Sie kam nur am Wochenende ins Dorf, sah nach dem Rechten, lief den Garten ab, zupfte Unkraut, erntete, wenn es etwas zu ernten gab. Den linken Nachbarn hatte sie fürs Mähen bezahlt. Er hatte oft gemäht. Zu oft. Sie hatte dann den rechten Nachbarn ums Mähen gebeten und nicht wieder versäumt, einen Terminplan vorzugeben. Oft sprach sie bei Pietro vor und bot das Haus als Quartier für dessen Gäste an. Alle im Dorf erinnerten sich an frühere Zeiten, da Pietros Garten und die umliegenden Wiesen von Zelten belagert worden waren. Lang, lang war’s her.

Pietros Haus reichte inzwischen vollkommen aus für die immer seltener eintreffenden alten Freunde. Keiner konnte sich vorstellen, hier zu wohnen, in dieser Idylle. Gleich gegenüber von Pietros Katzberg stand ein Haus, das in der ersten Hälfte der Neunziger von einer jungen Familie aufgekauft und ausgebaut worden war, mit eigenem Teich, umgeben von Wald und Feld. Selbst dieses schöne Haus stand seit Jahren leer, die Familie war fort, vielleicht zerbrochen? und einer allein schaffte es womöglich nicht, die Kinder in Schulen und Kindergärten zu bringen, was mit einer Art Arbeit ohnehin unvereinbar war, so abgelegen, wie das Dorf lag. Als sie im vergangenen Jahr dort gewesen waren, hatten sie einen Gang auf das freie, nicht umzäunte Gelände gewagt. Das Haus war keineswegs nach ihrem Geschmack saniert und ausgebaut worden, Styroporkassetten verunzierten die Decken der Zimmer, die Fußböden waren mit billigem Teppichboden belegt. Aber das Haus war technisch auf einem guten Stand gewesen, ehe es verlotterte, ehe die Scheiben eingeworfen und alle Räume als Toiletten benutzt wurden. Helene hatte sich gefragt, wer von den Dorfbewohnern zu solchem Vandalismus aufzureizen war. Ihr fiel niemand ein.

Es ist sogar schön, diese alt gewordene Traurigkeit wieder zu spüren, die mit der neuen um Maljutka nichts gemein hat, denkt Helene jetzt. In zwei Traurigkeiten gleichzeitig zu sein, ist kein schlechter Zustand, man liegt auf der einen und deckt sich mit der anderen zu, und wenn man hinaufschaut, kann man sich auf einmal vorstellen, dass diese Traurigkeiten nur zu spüren sind, weil es das Gegenteil davon wirklich gibt.

Die Lust.

Den Überschwang.

Deren Überschwappen

Sie möchte zu schreiben beginnen. Nicht ihrem Beruf nachgehen! Oh nein. Ob sie das eines Tages wieder können wird, ist unabsehbar für sie. Matthes hat erzählt, dass eine Anfrage kam: An einem Berliner Hauskomplex wollen Künstler kurze Gedichte in Szene setzen. Auftragswerke. Sie sollen in die Hauswände eingelassen, in Steinböden eingebracht, auf Fenstern installiert werden. Ob sie zu solchem Auftrag bereit ist? Ihr graut davor. Sie weiß es doch: Zwischen ihr und einem möglichen Gedicht gähnt ein sehr schwarzes Loch! Natürlich liest sie die Namen der angefragten Kollegen — nicht schlecht, es wäre ihr eine Ehre, da mitzumachen. Sie überlegt. Sagt schließlich Nein. Hat Angst. Es wird nicht gehen. Was ist überhaupt ein Gedicht? Sie erinnert sich, früher beim Lesen oder Hören guter Gedichte körperliche Empfindungen gehabt zu haben, die mit Geisteszuständen einhergingen, zu denen ihr einfach nichts einfallen will. Aufgeregt war sie, beflügelt, die Worte traten von selbst eine Lawine los in ihrem Kopf, dass sie nur noch aufzuschreiben brauchte, was ihr einfiel. Ein wunderbarer Zustand, den sie im Moment nicht herstellen kann. Matthes hat ihr Lieblingsgedichtbände mitgebracht. Zum Beispiel Seamus Heaney, eine Entdeckung der letzten Jahre. Nichts rührt sich, wenn sie ihn liest. Es geht nicht ums