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Lenz

will er sprechen, in voller Länge, begleitet von einem Schlagzeuger.

Lenz!

Das sei ein so großartiger Text! So wissend, klug und seiner Zeit voraus! Schon vor dreißig Jahren habe ihm

Lenz

am Herzen gelegen, der mit Sturm und Drang über die Romantik hinweggefegt sei und die Welt nicht entziffern konnte, die er am Ende der Reise vorfand! (In Pietros Augen jetzt nicht mehr Herr Schalk, sondern Frau Schwarm. Warten wir’s ab: Gleich wird er seine Blicke in Lenzens Irre schicken …)

Er bricht ab. Er schweigt. Dann fragt er zögernd, ob sie ihm einen Vor-Text schreibt. Etwas, was man den Leuten, ehe es losgeht, anbieten könne: Für die meisten sei

Lenz

eine einfache Leerstelle, sie wüssten nichts über ihn, da wäre es doch besser, eingeführt zu werden. Einen kurzen Text nur, sie habe doch so was früher auch gemacht, ob sie nicht …?

Nun schweigt sie. Ach Pietro, ich habe doch meine Sprache verloren, ich muss doch erst sehen, wie weit sie sich wieder finden lässt! Natürlich sagt sie das nicht, sondern reißt, nach Sekunden des Zögerns, den Dickschädel hoch:

Na gut, aber lass mir Zeit.

Pietro hat nicht verstanden, was mit ihr passiert ist, denkt sie. Kann man das überhaupt verstehen? Versteht sie es denn? Sie geht mit ihm zum Fahrstuhl, sie fahren hinunter. Schwungrad-Elli nimmt Abschied. Sie lacht noch, solange sie ihn sehen kann, denn etwas anderes hat sie eingeholt.

Sie weiß nämlich seit zwei Stunden, wie Maljutkas Glasspange in ihre Tasche geraten ist.

Vergangenes Frühjahr. Schon lange hat sie Maljutka nicht gesehen, es mögen zwei Monate vergangen sein, seit sich diese mit dem Ausspruch, wohl doch kein besserer Kerl als Matthes zu sein, von ihr verabschiedet hatte. In beinahe täglichen Mails hat Helene versucht, ihr zu erklären, wie es um sie bestellt war. Dass sie verwirrt, durcheinander wäre; dass es im Bauch zöge, wenn sie an Maljutka dächte, dass aber ihr Bauch, jawohl! ihr gehörte und sie gerade wegen des Ziehens viel öfter, auch stärker, intensiver an Matthes denken müsste; dass sie mit Matthes auf tausenderlei Art verfilzt und verstrickt sei, dass sie nicht einfach einen Faden rausreißen und daran ziehen lassen könnte — sie hätte Angst vor Nacktheit und Vereinzelung; sie hätte ihr Leben mit Matthes’ Leben in einen Topf geschmissen und keine Gelegenheit gefunden — auch nicht gesucht, gab sie zu —, über auswärtige Verliebtheiten zu reden, seit er von ihrer Freundin Heidrun zurückgekommen wäre, allerdings wäre das jetzt sechzehn Jahre her, eigentlich genügend Zeit, Beziehungen wie alt gewordene Jahre vorbeigehen und neue anfangen zu lassen; so hätten sie aber nicht gewettet, als sie sich zusammengetan hatten; sie spürte beinahe täglich, wie wichtig sie für Matthes wäre, während das im umgekehrten Fall nun leider nicht gälte, schlecht für ihn — und für sie, denn sie brächte es so nicht übers Herz, sich zu teilen; manchmal wünschte sie sich, Matthes hätte eine andere Frau, keine heimliche Liebe, sondern offen, leibhaftig, die ihm gäbe, was er bei ihr vermisste, aber daran wäre nicht zu denken, leider; und: manchmal sehnte sie sich nach Matthes, jawohl, das gäbe sie hier gern zu und zu Protokoll (das waren ihre trotzigen Tage); sie wüsste auch nicht, warum, aber so wäre es: Sex mit ihm wäre Gewohnheit, und hätte er einmal begonnen, wäre er in Ordnung, nein: einnehmend, fesselnd! (das waren ihre sehr trotzigen Tage) — nur, dass sie von sich aus im Allgemeinen keine Lust verspürte, ihn beginnen zu lassen … Ihre Mails an Maljutka Malysch nahmen sich im Vorpreschen schon wieder zurück, das hatte sie nicht bemerken wollen damals, aber im Erinnern wird es ihr klar,

wie dicke Tinte

, sagt sie leise, denn eigentlich ist hier nichts klar: weder ihr Gehabe Matthes noch Maljutka gegenüber. Als hätte sie den Schwebezustand für sich befestigen wollen: in der Gondel gerade so weit oben, dass beide sie sehen und sich nach ihr aufbrauchen mussten — vielleicht hatte sie letztlich gehofft, auf diese Weise beide zunichtezumachen, ohne sich viel vorwerfen zu müssen?

Das trifft. Das sitzt.

Maljutka hatte ihr eines Tages im Mai die Spange geschickt, mit einem Foto: Sie hatte sich die Haare abschneiden, sich mit Dreitagebart und in Hemd und Sakko fotografieren lassen.»Ideal, was?«stand, mit Bleistift geschrieben, auf der Rückseite.

Es ist ein Rascheln und Tütern um sie her: Matthes hat heute Lottchen und Lissy mitgebracht, es ist Samstag, auch in Heidemühlen. Sie hat das Gefühl für die Wochentage gänzlich verloren, ist jeden Morgen überrascht, wenn sie einen davon auf der Zeitung liest. (Manchmal kauft sie eine. Meist aber weiß sie, dass zum Lesen nicht genug Zeit bleiben wird angesichts der Vielzahl der Therapietermine.)

Früher Vormittag, eine ungewöhnliche Besuchszeit. Hat Matthes noch jemanden mitgebracht? In der Tat, hinter der Tür steht — Fips, ihr Nachbar aus der Zeit, als sie noch im Feldberger Ring gewohnt hatten, der ersten gemeinsamen Wohnung. Viele Wohnungen lagen zwischen jener und dem Haus in der Arberstraße … Wo hat er denn den aufgetrieben? Matthes meint, Fips beim Einkaufen getroffen zu haben, er habe in ihrer Nähe gebaut, in der Zwieseler Straße, ganz hinten,

du weißt doch: wo die Bahnschienen sind, genau da, wo wir auch überlegt hatten zu bauen, ehe wir unser Grundstück fanden!

Aha. Dann ist also Fips, der alte Nachbar, auch Fips, der neue Nachbar. Matthes meint, er sei mitgekommen, um sie abzuholen. Wenn sie will und kann natürlich, das sei eine ganz spontane Idee von Fips gewesen, nachdem er vernommen hatte, was sich in der Familie Wesendahl gerade abspielte.

Möchte Helene? Eigentlich möchte sie nicht. Eigentlich bliebe sie lieber hier. Sie hat Angst, nach Hause zu fahren. Angst vor Matthes’ Gier nach ihr. Angst davor, in die Lage zu kommen, im Kleiderschrank nach der Diskette mit den Maljutka-Mails zu fahnden. Angst, ihr Arbeitszimmer in der oberen Etage zu wissen und nicht hinaufgehen zu können. Angst, von Matthes’ Fürsorge zum Anziehen der blütenreinen Gewogenheitsweste genötigt zu werden, die ihr doch sowieso nicht passt, das Zwangsjäckchen. Angst, einem normal anmutenden Alltag ausgesetzt zu sein. Angst, in

Heileheile

butts Schwimmblase sitzen zu müssen und nicht genug Luft zu bekommen …

Jetzt hat sie aber auch so lange an Angst gedacht, dass Matthes enttäuscht dreinschaut,

na ja, du musst ja nicht

Nein, sie muss ja nicht. Aber andererseits wäre es gar nicht schlecht, Billy und Mareile um sich zu haben; mit Bengt zu telefonieren, wenn Billy ihr hilft; den Kindern, Lacherfolg sicher, das Schälen einer Kartoffel zu zeigen, wie sie es in der Ergotherapie schon versucht hat: aufgespießt auf ein spezielles Brett, hatte die linke Hand herhalten müssen — sie hatte ein solches Brett, in das auch Schaber und Reibe integriert waren, bereits gekauft; vielleicht ließe sich ein Halbstündchen ausmachen mit Matthes allein in der Küche, für einen Tee, zu dem sie beide nichts Allfälliges sagen mussten, aber die vergehende Zeit vielleicht doch noch anstachelten, Wort um Wort unter der Oberfläche hervorzuholen, sie kannte solche Teestunden aus früheren Jahren, stets gutgetan hatten sie ihnen …

Na los, fahren wir!

Sie sagt es einigermaßen entschlossen, auf ihrem Gesicht haben noch die Bedenken die Oberhand. Aber nachfragen muss sie ohnehin erst, eigentlich sind Wochenendurlaube vorher anzukündigen und zu genehmigen, wer weiß, ob sie das hier auch so lax handhaben wie auf der

stroke unit

Zieht also los, die Kinder im Schlepptau. Im Schwesternzimmer sind alle ausgeflogen, wo findet sie jemanden, den sie fragen kann? Sie läuft den Stationsflur auf und ab, bis endlich eine der Schwestern sich zeigt, sie kommt aus einem Zimmer, deren Bewohner offenbar entlassen worden sind und das wieder hergerichtet werden muss. Sichtlich gestört fühlt sie sich durch Helene, rempelt sie sogar wie zufällig, den Arm voller dreckiger Bettwäsche, an. Helene gerät ins Stottern, das ist selten inzwischen, aber was hilft’s, der Wunsch muss raus. Nun scheint sie gar nicht mehr unwillig, scheint sich eher zu freuen über die Aussicht, heute eine Patientin weniger versorgen zu müssen. (Dabei fragt sich Helene, was an ihr zu versorgen sei, sie macht doch alles selbst!) Wann zurück? Nicht später als