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Uhr, dass das klar ist! Helene hätte gern salutiert, traut sich jedoch nicht, den Rollator loszulassen. Das Zucken aber hat sie bemerkt, das ihr von unten nach oben durch den Körper schoss wie ein Angelhaken mit Sehne, die jetzt die ganze Wirbelsäule in die Länge zieht. Schön aufrecht steht sie vor der Schwester,

jawoll!

, als der Haken durch eines der Löcher in der Schädeldecke wieder austritt und die Sehne mit sich zieht. Sie fällt in entspannte Haltung zurück, als die Schwester sich von ihr wegdreht, um die Bettwäsche — sie hat sie die ganze Zeit zärtlich im Arm gehalten, wie einen völlig erschlafften Bräutigam — in die bereitstehende Tonne zu drücken. Helene dirigiert die Mädchen zurück, Lottchen springt auf die Ablagestufe des Rollators und lässt sich schieben. Ist fröhlich, meint aber, der Rollstuhl sei

viel besser

gewesen.

Gehäcker, Gemecker, Gekäcker.

Mitnehmen möchte sie nichts außer der kleinen Handtasche, die Matthes ihr am ersten Tag ihres Krankenhausaufenthaltes gebracht haben will. Papiere darin, das Portemonnaie. Die muss sie sich aber aus dem Safe herausgeben lassen, ein schwieriges Unterfangen, wenn die Rezeption unbesetzt ist. Ach, was braucht sie Papiere, lässt sie das Täschchen eben da.

Schon sitzen sie im Auto. Fips ist sichtlich unsicher, weiß nicht so recht, in welchem Zustand sie sich befindet und wonach er unverfänglicherweise fragen kann, aber Mareile und Lottchen springen in die Bresche mit dickem Streit. Worum es geht, ist wie immer nicht klärbar. Wahrscheinlich hat Matthes nicht schlecht Lust, Lottchen derb anzufassen, traut sich aber nicht, sondern redet auf sie ein,

das

doch zu lassen. Aber was? Sollen die doch da hinten ihren Kram selbst austragen, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Der Rollator liegt im Kofferraum und scheppert laut, beinahe rhythmisch. Im Takt des tackernden Klapperns bewegt sie die linke Hand und hat das Gefühl, die rechte mache mit, aber als sie hinschaut, hat sich dieser Eindruck erledigt. Wieder mal aus der Traum, eigentlich ist sie dabei, sich daran zu gewöhnen. Sie fragt Fips nach Frau und Kindern, und erleichtert erzählt er. Sie schaut ihn interessiert an, ohne zuzuhören, das kann sie offenbar noch immer. Ihre Kapazität ist schnell erschöpft, das weiß sie, also bietet diese Art der Gesprächsführung willkommene Gelegenheit, den anderen nicht zu brüskieren. Und Fips erzählt gern, eine Hand bleibt am Lenkrad, die andere untermalt, was er sagt. Währenddessen verliert sie sich in einem Zustand der Leere. Ist schließlich verwundert, als das Auto in der Arberstraße hält. Fips möchte nicht mit hineinkommen, packt den Rollator aus dem Kofferraum.

Aus dem Nachbargrundstück kommt die alte Frau Wierbel, und woran geht sie? Natürlich auch an so einem Ding. Sie stutzt, als sie Helene sieht, schaut aber schnell weg. Sie ist eine, die den Kontakt scheut wie ihr Kater das Wasser. Helene hat ihn im letzten Frühjahr des Öfteren verjagt, weil er sich in der Blumenrabatte zu schaffen machte, die sie mühsam und gegen den eigenen Willen (eigentlich nur, um den Nachbarn zu Willen zu sein) angelegt hatte. Wahrscheinlich hatte die Wut darüber, dass sie sich dazu hatte aufstacheln lassen, das Ihrige beigetragen zu den Anti-Kater-Aktionen, denn sie mochte Katzen. Als Kind hatte sie die Vorbehalte ihrer Mutter außer Kraft gesetzt, als sie ihrer jüngsten Schwester ein Kätzchen mit hellblauer Riesenschleife um den Hals zum Geburtstag schenkte — sie hatte gewusst, dass der Vater dafür sein würde, und sich stark gefühlt. Immer war sie ängstlich darauf bedacht gewesen, die Story nicht etwa ihren eigenen Kindern zu erzählen, sie hatten schließlich bis zum Einzug in die Arberstraße in Neubau-Mietwohnungen gelebt. Frau Wierbel jedenfalls liebt als einzigen Menschen ihren Kater. Helene schaut ihr hinterher, wie sie langsam in Richtung Supermarkt verschwindet.

Eigentlich ist so ein Rollator zum Einkaufen gar nicht schlecht, man kann im Korb eine ganze Menge unterbringen. Wie zum Beweis legt Fips eine große Plastiktüte voller Äpfel hinein und obenauf eine Schachtel Mon Cheri. Später in der Küche erzählt Matthes, dass Fips die Äpfel im eigenen Garten geerntet hat. Fips hatte eine Sonder-Baugenehmigung beantragt, um den Baum stehen lassen zu können: Eigentlich hat jedes Haus im Abstand von fünf Metern zum Straßenzaun zu stehen. Der große, alte Apfelbaum hätte für diesen Abstand gefällt werden müssen. Erst nach einem personellen Wechsel im Bauamt wurde ihnen genehmigt, ihr Haus in acht Metern Entfernung zur Straße zu errichten. Sicher hatten sie auch deshalb Glück, weil ihr Grundstück das letzte in der Straße ist und bleiben wird, denn dann kommt Bahngelände. Jetzt hat sie sich nicht durch interessiertes Hinschauen vorm Zuhören gedrückt, und die Frage folgt auf dem Fuße: Will sie das alles wissen? Will sie nicht. Sie nimmt sich vor, die Gelegenheit abzuwarten, mit Matthes die Frage ihrer Kapazität zu besprechen.

Ja, Kapazität. Das ist es.

Ach Billy … Er kommt aus seinem Zimmer herunter und begrüßt Helene mit solch überschäumender Freude, dass ihr sehr wohl wird. Wenn einem ein Kind sehr ans Herz wächst, fühlt man sich den anderen gegenüber nicht sofort schuldig, aber später schon. Hat man Zeit und Gelegenheit, darüber nachzudenken, kommen einem die fünf Kinder so unterschiedlich vor wie die Liebe zu ihnen. Die Jungen behandelt sie viel … respektvoller? Ja. Sie kann sich in deren Identität nicht so einfühlen wie in die der Töchter, glaubt sie. Zu den Mädchen besteht diese Schranke nicht, und auch die pubertären Auseinandersetzungen mit ihnen waren und sind scharfkantiger, gingen und gehen ihr eher an die Substanz. Statt den Jungen eine zu kleben, hatte sie in den Jahren ihrer Ehe oft genug kapituliert. Dass die Hand nicht immer festsitzt, weiß sie, seit Bengt vier Jahre alt war. Ein trotziges, selbstbewusstes Kind, das seine eigenen Interessen stark und still durchzusetzen versuchte. Als Helene begonnen hatte, in Henrichshorst zu arbeiten, war sie als alleinerziehende Mutter ganz auf sich allein gestellt gewesen. Matthes gab nun schon jahrelang vor, sie zu lieben, hatte aber etwas wie eine Trennung von seiner Frau wieder und wieder vertagt. Dass er wenige Monate später endgültig bei ihr einziehen würde, ahnte sie damals nicht. Zeiten, in denen sie versuchte, den beiden Söhnen beizustehen beim Überleben mit hoffnungsloser Mutter. Eines Tages zur Mittagszeit, sie wähnte Bengt wie immer im Kindergarten, hatte die Frau eines Arztes, der im Ärztehaus lebte, den Jungen zu ihr in die Sprechstunde gebracht: Sie hätte das Kind nun schon den dritten Tag beobachtet, wie es unter ihrem Fenster stundenlang im Sandkasten spielte, ob das so richtig sei? Es hätte sich zwischendurch zu essen genommen aus der Brottasche und dann weitergebaut an riesigen Murmelbahnen. Den dritten Tag! Erstarrung. Sprachlos hatte sich Helene zu fassen versucht. Weil sie Billy mit dem Fahrrad zur Tagesmutter bringen musste, hatte sie Bengt mit einem Küsschen stets an der Ecke der Straße, die zum Kindergarten führte, verabschiedet und war weitergefahren. Bengt, der nie über Kindergartenunlust klagte, hatte offenbar abgewartet, bis Helene nicht mehr zu sehen gewesen war, und sich dann stillvergnügt auf den Heimweg gemacht, hatte sich unter den Fenstern des Ärztewohnhauses in den Sandkasten gesetzt, der von der Poliklinik aus nicht einsehbar war, und abgewartet, bis andere Kinder aus dem Kindergarten zurückgekommen waren, einige allein, einige an der Hand ihrer Mütter oder Väter. Dann war auch er hochgestürmt zu Helene, die, weil sie Billy nachmittags wieder abholen musste, mit dem Kindergarten vereinbart hatte, dass Bengt alleine nach Hause gehen durfte. Nichts hatte ihn verraten, jedoch hatte sich Helene beiläufig gewundert, dass er von sich aus so viel erzählte vom Kindergartentag. Hatte sich noch gefreut darüber, dass der Junge endlich angekommen schien. Heiliger Bimbam, wenn sie jetzt daran denkt, muss sie lachen, aber damals war ihr nun so gar nicht nach Scherzen irgendwelcher Art zumute gewesen, sie hatte Bengt bei den Armen genommen und geschüttelt, als er keine Auskünfte geben wollte über sein Tun und Lassen, und hätte sich die Frau Arztgattin nicht die Zeit genommen, in der Tür stehend abzuwarten, was Helene nun tun würde, so hätte sie ihm