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eine geklebt

Wütend war sie gewesen. Wenn sie es recht bedachte, jedoch auf sich selbst, die sie den Kindern im Moment mit unechten Späßchen die wenigen Stunden zwischen Arbeit und Bettgang zu fälschen versuchte. Selbstüberhebung. Sie war zwar Psychologin von Beruf, jedoch fraßen

Herzeleids

Katzenhaie an ihr wie an jeder anderen Frau herum. Sie hatte ihr Kind geschnappt, war mit ihm in den Kindergarten hinübergestiefelt und hatte es dort abgegeben, nicht ohne sich den Seitenhieb zu erlauben, dass man ja mal nachfragen könnte, wenn ein Kind unentschuldigt den dritten Tag fehlte. Noch dazu, wo sie im Kindergarten oft genug zu tun hatte mit Hospitationen, einem Gespräch mit einer Erzieherin oder einem gemeinsamen Eltern-Kind-Tag. Sie hatte Bengt nicht einmal angeschaut, als sie wieder losgezogen war, und sie hatte die Erlaubnis, dass er am Nachmittag alleine nach Hause gehen dürfe, widerrufen. Von da an war Bengt jeden Tag der Letzte gewesen, der abgeholt wurde, denn Helene schaffte es nicht, bergab und bergauf und wieder bergab und bergauf Fahrrad zu fahren mit beiden Kindern. So holte sie zuerst Billy.

Armer Bengt.

Ausflüge in die Vergangenheit unterlaufen Helene immer öfter unwillkürlich.

Jetzt versucht Matthes, sie abzuschirmen von den Kindern, lädt sie zu einem Gartenrundgang ein. Die Mädchen bekommen Anweisungen, das Mittagessen vorzubereiten, und schicken sich maulend drein. Sie geht mit Matthes über die Terrasse in den Garten, hat den Rollator im Haus gelassen und Matthes gebeten, sie zu stützen. Er ist nicht ängstlich, aber übervorsichtig, sodass sie ihn bittet, ein bisschen beherzter auszuschreiten. Die Quitte? Hat in diesem Jahr überreichlich getragen, der Keller steht voller Kompott und Quittengelee. Wofür Matthes sich Zeit nahm … Wenn er über Dinge nachzudenken hat, an Vorträgen arbeitet oder einen Artikel vorbereitet, macht er Handarbeit. Pappmaschee, Bügeln, Backen. Es kann dann vorkommen, dass er mittendrin davonläuft, sie hat schon einige Male das Bügeleisen ausstellen oder verbrannten Kuchen aus dem Ofen holen müssen. Dann ist ihm etwas eingefallen, das aufzuschreiben keinen Aufschub duldet. Worüber hat er nachgedacht, als es an die Quitten ging? Sie fragt ihn nicht, er verträgt keine Fragen. Wenn man so viele Jahre verheiratet ist, macht man nicht alle Fehler, die man machen könnte. Dennoch sind es genug, die Tag für Tag passieren. Es stört sie, schweigend neben Matthes herzutrotten. Die Abwesenheit von Zwietracht bedeutet nicht zwangsläufig Eintracht. Bedeutet, dass zwei trotz ineinander verhakelter Arme, ineinandergreifender Hände allein unterwegs sein können. Schon oft waren sie ihr aufgefallen, zum Beispiel, als sie vor zwei Jahren in Venedig auf der Rialto-Brücke kauerte und wartete, dass Matthes mit seiner Fotografiererei fertig wurde: Paare, Arm in Arm, deren Augen leer aneinander vorbeischauten trotz der Gondeln, der Paläste, die sich in ihnen spiegelten. Dabei waren die Gesichter einander oft ähnlich gewesen, maskiert mit Indifferenz, hinter der man eine gewisse Apathie erahnte. Sie hatte sich in Matthes’ Arme geflüchtet damals und ihn anzublicken versucht, aber er war sehr beschäftigt gewesen mit seiner Kamera, hatte geblitzt und sie abblitzen lassen.

Regelrecht manisch

nannte sie seine Art zu fotografieren, aber zuweilen kamen erstaunliche Bilder zustande. Auch von Venedig. Ein Foto hatte sie gerahmt und über ihren Arbeitsplatz gehängt. Sie sieht zu dessen Fenster empor, der Blick kraxelt mit dem wilden Wein über den seitlichen Wohnzimmerausgang die Fassade empor zur kleinen Dachgaube, in der ihr Schreibtisch steht. In Gegensatz zu ihrem Blick wird sie selbst wohl nicht hinaufklettern können. Sie seufzt. Natürlich ist sie stehen geblieben, denn gleichzeitig laufen und nach oben schauen könnte sie nicht. Matthes geht ihrem Blick nach, sagt, dass die Dachrinnen einer Reinigung bedürfen. Nun seufzt er. Sie lächelt, das Seufzen könnte wohl ein Schrittchen aus der Indifferenz in Richtung Eintracht sein.

Aber schon macht sich ihre Angst, Matthes’ Intellekt in keiner Weise gewachsen zu sein, bemerkbar, ist eine rhythmisch an- und abschwellende Tönung ihrer Art, miteinander zu kommunizieren. Zu ihrer Verständigung gehören nicht nur die wenigen Worte, die sie miteinander wechseln, sondern auch Matthes’ sofortige Druckerhöhung in Arm und Hand bei der kleinsten, an Strauchler gemahnenden Gangunsicherheit, der bemühte Gleichschritt, das vorsichtige Abtasten ihrer Wünsche nach einem Richtungswechsel. Müsste nicht die Tatsache, dass sie all diese Dinge zweifellos sofort mitbekommt, die Angst aushebeln? Tut sie aber nicht, nein. Wenn er spricht, schwimmt sie im Verstehen drei, vier Sätze auf gleicher Höhe, schnell wird es zu viel, kommt es nur noch zu punktuellem Auftauchen, bis sie ganz und gar abgesoffen ist. Seit sie das für sich zu wissen glaubt, will sie nach den ein oder zwei Sätzen ganz genau aufpassen und den Anschluss an einen fünften, sechsten nicht verlieren, aber irgendetwas in ihr macht ihren Kopf brausen, den Blutdruck steigen? dass sie nicht anders kann, als wild um sich zu schlagen und dann doch aufzugeben. Mist aber auch. Da ist es gut, wenn er so wenig spricht wie jetzt. Hatte sie nicht vorhin erst an ihr Kapazitätsproblem gedacht?

Auf einmal hat sie das Gefühl, dass er sehr viel verstanden hat.

Die Mädchen haben Sellerie und Kartoffeln gekocht, Fleisch gebraten und einen Vanillepudding aus dem Kühlschrank geholt. Helene ist bemüht, den Mund geschlossen zu halten beim Essen. Kein Fädchen soll sich abseilen, kein Bröckchen herausfallen. In dieser Anstrengung krampft die rechte Hand, die sie nun unter dem Tisch zu halten versucht, die sich aber immer wieder langsam in die Höhe zieht. Es macht sie wütend, dass sie das Fleisch nicht selbst schneiden, die Kartoffeln nicht zerdrücken kann, oder? Ja, es ist Wut. Sie muss sich bezähmen. Mit ihrem dämlichen Schneidbrett hier zu sitzen, würde ihr schließlich auch nicht gefallen. Allmählich merkt sie, wie Speichel einschießt, wie sie die Kaumuskeln nicht mehr bewegen kann, weil ihr Gesicht von einer Heulattacke verzogen wird und ihr Mund sich öffnet. Tränen rollen. Meine Güte, warum muss ihr das aber auch immer wieder passieren! Und sie kann ja nicht einmal rausrennen! Allmählich scheinen sich die anderen immer weiter zu entfernen, sie zieht sich ganz auf sich selbst zurück und sitzt schließlich in der Ecke am Tisch, zwischen Wand und Billy, auf verlorenem Posten, ein verlorenes Kind,

enfant perdu

, schutzlos, als hätte man ihr das dicke Fell abgezogen, und hält den Kopf tief gesenkt, aus dessen fleischrotem Großloch durchspeichelter Brei längst hinabgestürzt ist, auf Bluse, Hose, Schuhe, sie schämt sich, im Schämen wird das Gefühl der Verlorenheit immer größer, bis sie schließlich gar nicht mehr da zu sein glaubt zwischen jenen Menschen, die sie in Briefen an ihre Eltern, als sie die noch schreiben konnte,

meine Lieben

genannt und das doch auch so gemeint hatte: Jeder war eine große Liebe gewesen. Kann man vor großen Lieben bestehen, wenn man spuckt, wenn man hilflos ist, sein Gesicht nicht beherrscht, seine Haltung verliert? Mareile umarmt sie plötzlich, ihr scheint das Gespucke nichts auszumachen, pass doch auf