!
will sie rufen, dein Pullover
!
aber nichts kommt mehr aus ihrem Mund, stattdessen fliegt auf einmal der linke Arm um Mareiles Schulter, ihr Kopf in die Nische zwischen Mareiles Kopf und Schulter, und nun sitzt sie, an ihre Tochter gelehnt, und spürt, dass die Tränen wohl endlich die längste Zeit geflossen sind. Gott sei Dank. Als sie sich später von ihr löst, sieht sie Fleischsellerie auf ihrer Brust, Kartoffelpamps im Hosenbund.
Armes Mädchen.
Jetzt lächelt sie wieder.
Jetzt lächeln die anderen aber nicht.
Jetzt aber bitte lächeln, meint ihr Blick, den sie von einem zum anderen schickt. Ist er flehentlich? Sie weiß nicht mehr, wie man einen flehentlichen Blick ins Gesicht hineinpflanzt. Sie will es versuchen. Ihre Versuche müssen komisch aussehen, denn einer nach dem anderen prustet los, bis sie schließlich beinahe unter dem Tisch liegen vor Lachen.
So nahe ist also das eine beim anderen.
Sie will keinen Mittagsschlaf machen, nein. Aber sie kann die Augen nicht lange genug offen halten, um das zu beweisen. Matthes schiebt sie ins Schlafzimmer, aber sie entgegnet, dort nur zu bleiben, wenn er sich in sein Arbeitszimmer zurückzieht. Während sie das sagt (und sie muss dummerweise grinsen dabei, obwohl ihr nach allem Möglichen zumute ist, nur nicht nach Grinsen), blitzt ein plötzliches Erinnern auf, das sie festhalten will, sie schaut in die Ferne, indem sie die Augen schließt, dem Erinnern hinterher, und tatsächlich kann sie, ehe es ins vorerst Unwiederbringliche verschwunden ist, ein Zipfelchen davon packen. Nun zieht sie, zerrt, versucht zu entwirren: Matthes war im Frühjahr, jedenfalls sieht sie die Kirschen blühen vor ihrem Fenster, in sein Arbeitszimmer gezogen, mit Sack und Pack, hatte sogar den alten Kleiderschrank, den ihnen Frau Wierbel vor Jahren, anlässlich ihres Einzuges, angeboten hatte und den sie im Keller deponiert hatten, im Sommer für die Wintersachen, im Winter für Sommerkleider und die kurzärmeligen Hemden, abgeschliffen und mit Holzöl behandelt, um ihn dann nach oben zu manövrieren. Eine Riesenaktion war das gewesen, sie hatten den Schrank, um ihn nicht auseinanderbauen zu müssen, über den Balkon auf die obere Etage befördert, er passte nicht über die gewinkelte Treppe. War sie seither nicht in Matthes’ Zimmer gewesen? Es kommt kein Bild vom Schrank, offenbar weiß sie gar nicht, in welche Ecke er ihn gestellt hat.
Helene?
Matthes schaut ihr von unten in die Augen, die sie nun wieder geöffnet hat, zurück von der kurzen Tour ins Gewesene.
Matthes?
Sie versucht, in ihre Augen etwas Wissendes hineinzubugsieren, es von hinten aus dem Schädel durch die Sehnerven nach vorn zu blasen. An das Auspusten von Eiern muss sie dabei denken: das Wissende platscht womöglich wie Dotter, mit Eiweiß gemischt, einfach hinab! Da zieht sie es aber lieber schnell wieder zurück, das Wissende, und tut so, als könne ihr Blick kein Wässerchen trüben. Das kann sie, merkt sie, und es macht sogar Spaß. Aber den Moment des Spaßes erlaubt sie sich nicht. Gerade, als er ein Funkeln in ihren Augen entzünden will, denkt sie an Maljutka Malysch, sie kann es nicht fassen, dass immer wieder leichtgewichtige Späßchen sich anschicken, die Trauer vergessen zu machen, in der sie sich doch noch gar nicht richtig zurechtfinden kann. Andererseits: Alle hier haben Trauer und Schrecken erlebt, die sie nicht
erlebt
hat, nämlich ihretwegen, und sie laufen nun auch nicht gerade mit ausgestelltem Trübsinn herum. Ist ja auch gut ausgegangen mit ihr. Ist aber schlimm ausgegangen mit Maljutka Malysch, die Arme, die Gute, sie hat sie doch lieb! Und dass es vorbei ist damit, dass sie höchstens noch sagen kann, sie
hatte
sie lieb, das kann, das darf doch nicht wahr sein!
Ist aber wahr.
Was außerdem wahr ist: Sie kann die Trauer darüber mit niemandem hier teilen, nicht einmal mit Billy. Das sitzt, das schmerzt, das halftert ab. So sehr, dass Matthes ihr im nächsten Augenblick unter die Arme greift und sie in ihr Bett bringt. Wunschgemäß, ohne Diskussion, zieht er sich dann zurück.
Wo der Schlaf geblieben ist, weiß sie nicht. Sie steht nach kurzer Zeit und hangelt sich zum Kleiderschrank hinüber, öffnet ihn und beginnt, die Diskette zu suchen. Mit einer Hand ein schwieriges Unterfangen. Schließlich entscheidet sie sich, die Sachen einfach auf den Boden zu fetzen. Im obersten Fach nichts, im zweiten nicht. Dann, im dritten, zieht sie unter den Schlafanzügen ein Briefkuvert hervor, fest zugeklebt, in dem sie sofort den Gegenstand ihrer Suche identifiziert. Mit den Zähnen reißt sie es auf, zwischen den Zähnen hält sie schließlich das schwarzgraue Plastikviereck und nimmt es in die Hand: Der Filzstiftpunkt auf weißem Label schaut sie an wie das rote Auge eines Angorakaninchens, ja, das ist sie, die besagte Diskette, sie stopft sie in ihren Schlüpfer, sie möchte keine Fragen hierzu hören, keine beantworten. Es gelingt ihr, die Wäsche wieder im Schrank zu landen, allerdings ist da nichts mehr zusammengelegt, gefaltet. Macht nichts, Matthes wird es nicht sehen können, wie er in Ordnungsfragen eh nichts bemerkt, alles fallen lässt, wo er gerade steht. (Sie hat mit den Jahren gelernt, darüber zu lächeln, nur manchmal, an spitzen Winkeln, wie sie nur wenige Tage aufweisen, kocht ein Schub Wut darüber hoch, den sie aber für gewöhnlich schnell unter den Deckel zwingen kann.) Als sie sich wieder hingelegt hat, merkt sie, dass ihr das Herz schneller schlägt, lauter, als wolle es gegen den Rippendruck aufbegehren. Die Stelle, an der das Plastikteil auf ihrer Haut liegt, wird heiß, sie schiebt die Hand unter dem Gummi hindurch und legt sie auf die Diskette.
Mein Schatz
, sagt sie leise.
Es klopft. Matthes steckt den Kopf durch die Tür.
Zeit zum Losfahren
.
Was denn, hat sie so lange geschlafen? Und nicht mit den Kindern den Nachmittag verbracht? Vermutlich hätte es zu einem Memory-Spiel mit Lottchen kommen sollen, zu fünft hätte Monopoly zur Diskussion gestanden. Sie hätte sich rauswinden, hätte den Kindern begreiflich machen müssen, dass sie derartige Spiele nicht mehr durchschauen und noch nicht durchhalten kann. Schwer wäre es gewesen, sie nehmen ihre Einschränkungen viel eher als körperliche Gebrechen wahr … Fips ist schon da, steht im Flur und winkt Helene zu. Wohl oder übel muss sie aufstehen. Als sie in den Flur tritt, schaut Claudia um die Ecke, ein bisschen ängstlich sieht sie aus, so, als wisse sie nicht, womit zu rechnen ist. Claudia ist die Frau von Fips, größer als er, breiter sowieso. Sie begrüßen sich herzlich, Claudia war eine Meisterin des
Hotzens
gewesen. Dass ihr dieses Wort einfällt! Helene möchte hüpfen vor Freude, könnte sie es.
Hotzen
hatte ihr Vater das Hüten kleinerer Kinder genannt, sie erinnert sich der vergackerten Abende, in denen er das Buch, hieß es
Thüringer Volkskunde?
, aus dem Regal genommen und Worte wie Redewendungen daraus vorgelesen hatte, die es schon damals gar nicht mehr gab, die aber bei den Schwestern und der Mutter ebensolche Lachsalven ausgelöst hatten wie bei ihr. Längst müssen auch Claudias Kinder dem hotzbaren Alter entwachsen sein. Noch immer hält sie die Augen gesenkt und blickt vorsichtig nach oben, und erst, als Helene ihr in die Seite knufft und aufmunternd zulacht, bricht das Angsteis. Darunter kommt die alte Claudia mit der lauten, dem großen Resonanzbrustkorb entsprechenden Stimme zum Vorschein, und Helene schnippt vor Schreck ein Stückchen zurück, als die Stimme endlich erleichtert zu scheppern beginnt. Ja, so kennt sie die gute Claudia, vielleicht ist es schön, dass sie in der Nähe wohnt.