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Matthes hat zwei Gläser dunklen Traubensaft, natürlich eigene Ernte, aus dem Keller geholt. Eines für den Chauffeur, das andere für Helene. Außerdem hält er ihr einen prall gefüllten Beutel hin, zu dem er jetzt nichts sagen will, den sie aber mitnehmen soll. Sie rollen zum Auto. Das Einsteigen gerät diesmal nicht zur Großaktion, denn Claudia weiß offenbar genau, wo sie anpacken muss. Als Matthes ihr Auf Wiedersehen sagt, ist sie sehr erschrocken, seine Zunge in ihrem Mund zu fühlen, damit hatte sie nicht gerechnet. Wann sie zum letzten Mal so geküsst wurde, weiß sie schon nicht mehr. Wann sie zum letzten Mal so geküsst hat, fällt ihr aber auf der Stelle ein, und sie wird rot. Maljutka hatte den Kuss nicht erwidert, war zurückgeschreckt, und sie hatten sich wortlos, kopflos getrennt voneinander. Ja, das war im April gewesen, sie hatten sich noch einmal getroffen, das Märzdesaster auszuwerten. Maljutka Malysch hatte es eher vergessen machen wollen, während Helene sich — sich zurückzuziehen gedachte! Die Mattheskiste wog zu schwer, um sie einfach am Wegrand abzukippen und eine neue, eine Maljutkakiste, aufzunehmen, hatte sie gesagt, sie hatte sich examinieren, die Gemeinschaft mit Matthes genauestens hinterfragen wollen, ohne zu wissen, wie das anzufangen war, sie hatte den Alkohol ausgeschlagen, den Maljutka vorausgreifend bestellt hatte, eine Flasche Rioja, wo war das gewesen?

So sehr ist sie auf den Abwegen des vergangenen Frühjahrs unterwegs, dass Billy gar nicht durchkommt zu ihr mit seinen Gutezeitwünschen bis zum Wiedersehen, seinem Konvolut Sorgenpüppchen, die er gebastelt hat, und erst Lottchens kleine Hand, die ihr mit der Patina des lieben langen Tages, Ketchup, Schlamm und Kinderknete, übers Gesicht fährt, bringt sie zurück in die Situation, die eine des Abschieds ist. Matthes’ Beutel stellt sie sich zwischen die Beine, das Handtäschchen baumelt am linken Arm. Claudia setzt sich nach hinten, als das Auto anfährt, winken die beiden Frauen. Helene sieht Matthes in die Augen, es will ihr scheinen, als beginne er zu heulen, und da, auf einmal, tut er ihr richtig leid. Mitleid hat sie keines gespürt in den letzten Monaten, da ist sie sich sicher. Es zieht anders als Lieben, nicht im Bauch, eher im Brustbereich und im Kopf, aber es bringt das Herz ebenso zum schnelleren Schlagen. Das Mitleid nimmt ab, als Matthes kleiner und kleiner wird, seine Augen nur noch zwei winzige dunkle Pünktchen sind, und als das Auto um die Ecke fährt, ist es ganz und gar verschwunden. Das Herz schlägt im Schrittmachertakt. Komisches Gefühl, denkt Helene, das sich nur dann offenbart, wenn man das Leiden anderer wirklich

sieht

.

Claudia gibt einen Kurzabriss des Lebens ihrer Kinder in den vergangenen zwölf Jahren. Da ist es wieder, das Kapazitätsproblem. Sie hat es nicht erörtert mit Matthes, fällt ihr ein. Was bleibt ihr übrig, als ein interessiertes Gesicht aufzusetzen und hin und wieder in Claudias Richtung zu schauen? Nichts, weiß sie, und als sie nach einer guten Dreiviertelstunde in Heidemühlen ankommen, sagt Claudia doch allen Ernstes, dass sich nichts geändert habe: Sie sei noch immer die tolle Zuhörerin, die sie seit jeher gewesen wäre.

Was soll’s, denkt Helene und verabschiedet sich von den beiden. Einen Moment lang hält sie sich geradezu für gerissen, dass sie diesen Eindruck erwecken kann, der sie doch nur davor schützt, Informationen aufzunehmen, die sie früher mühelos hätte verarbeiten können …

Dieser Tag war anstrengend. Das wäre ihr, auch angesichts ihres ausdauernden Mittagsschlafes, eigentlich nicht in den Sinn gekommen, wenn sie nicht plötzlich von einer enormen Müdigkeit malträtiert würde, gegen die sie nicht ankommen kann und die sie sogar daran hindert, den Club der alten Männer im Speisesaal aufzusuchen. Nein, sie möchte nur noch ins Bett.

Die Diskette hat sie ganz vergessen.

Auf dem Weg zum Treffen hatte sie sich Maljutka immer wieder mit kurzen Haaren vorstellen müssen, hatte Angst gehabt, sie nicht sofort zu erkennen, vielleicht würde sie ja auch in betont männlicher Aufmachung erscheinen? Helene hatte gezittert vor Aufregung, immer wieder waren die Schauer ihr vom Kopf in die Beine geschossen, dass sie stolperte. Es war Mitte April, sie sieht sich in einer Tulpenrabatte landen, auf irgendeinem zentral gelegenen Platz in Berlin … Ja, richtig, sie hatten sich in einem Café Nähe Bahnhof Charlottenburg verabredet, zu dem sie beide etwa die gleiche Entfernung zurückzulegen hatten. Vielleicht war es zu früh am Tage, jedenfalls waren nur zwei Tische besetzt gewesen, ihre Angst hatte sich als unbegründet erwiesen. Trotz der kurzen Haare sah Maljutka auf Anhieb weiblicher aus als bei ihrem letzten Treffen, die Frisur stand ihr ausgezeichnet. Sie hatte deren Ton ihrer natürlichen Haarfarbe angepasst, das Grau im Aschblond durch Funkelsträhnchen ersetzt. Gekonnt sah das aus, alle Achtung. Helene machte sich nicht halb so viel aus ihrer äußeren Erscheinung, wie Maljutka aufgewandt haben musste, um in diesem Look zu erscheinen. Die Kleidung war nur auf den ersten Blick indifferent, auf den zweiten enttarnte sich das karierte Kurzarmhemd als eine Bluse, die Hose als eine weiblich geschnittene Schlagjeans. Magerer war sie geworden im letzten Monat, Helene konnte nicht anders, als sich die kleinen Brüste als Spiegeleier auszumalen. Sie sah schön aus, viel schöner, als Helene sie in Erinnerung gehabt hatte. Sofort zog es wieder im Bauch, und Helene hatte das deutliche Gefühl, eben nicht den Kerl in Viola zu meinen. Der steckte doch drin, der würde sich doch nie gänzlich verabschieden! dachte sie zwar, aber sie musste sich seiner bewusst erinnern, von selbst zeigte er sich ihr nicht. Das war neu und veranlasste sie auf der Stelle zu einem hingenuschelten

spät, aber Gott sei Dank nicht zu spät

, was Maljutka Malysch mit einem Blick auf ihre kleine! goldene! Damenarmbanduhr! quittierte und Helene die drei Minuten großherzig vergab. Sie schüttelte augenfällig den Unterarm aus und damit das Ührchen ein Stück herunter, auf dass es locker wie ein Armband das Handgelenk umspielte. Helene lächelte, fragte, ob

das Ding

eine Neuanschaffung sei. Kurzlebiger Stolz glättete Maljutkas Gesicht, das sich aber sofort wieder zerfurchte. Überscharf nahm nun auch Helene das Tuscheln am Nachbartisch wahr, der Kellner gab der Tresenfrau Zeichen, und wenn auch nicht klar war, worüber getuschelt, wozu Zeichen gegeben wurden, so wusste sie doch, dass Maljutka alles auf sich bezog. Vermutlich zu Recht. Helene hängte ihren Mantel an den Garderobenständer, setzte sich. Bestellte einen schwarzen Tee, ein Stück Kirschkuchen. Maljutka kippte das erste Glas Rotwein, längst hatte sie eine Flasche bestellt, mit dem Trinken aber auf Helene gewartet, und goss sofort nach, als sie hörte, dass sie die Flasche würde alleine leeren müssen.

Sie schwiegen.

Sie schwiegen lange, nur das Kratzen der Kuchengabel auf dem Teller, Maljutkas kehliges Schluckgeräusch beim Trinken und das gelegentliche Aufsetzen des Teeglases auf dem Untersatz blieben zu hören. Schließlich räusperte sich Maljutka und fragte nach Lissy, die sie

beeindruckend

gefunden hatte bei ihrem ersten und letzten Besuch in Helenes Zuhause,

so ohne Fett auf den Rippen und doch irgendwie stark und sehnig,

sagte sie, und ein unsicheres Flackern erschien in ihren Augen. Helene nahm die Frage zum Anlass, der beidseitigen Verlegenheit ein Schnippchen schlagen zu wollen. Sie legte los mit Entwicklungsberichten aller fünf Kinder im letzten Halbjahr, und als sie, beinahe erschöpft, absetzte, sahen sie sich an und mussten lachen. Befreit meinte Maljutka, sie könnte ja verstehen, wie wichtig Matthes für Helene sei. Dass sie

kein Recht