Выбрать главу

fragt sie. Ui, es geht!

Strouk junit

, sagt die Frau.

Was ist das?

Noch ehe die Frau antworten kann, fällt es ihr ein. Natürlich, die

stroke unit

für Schlaganfallpatienten! Was soll sie denn unter Schlaganfallpatienten anfangen? Ungläubig schaut sie die Physiotherapeutin an.

Die sagt, dass sie auf Drängen ihres Mannes auf die Innere gerufen worden sei, um sie zu beturnen. Dass das auf der

stroke unit

aber viel einfacher sei, weil die Wegezeit wegfiele und sie auch mal zwischendurch nach ihr schauen könnte. Außerdem liefen auf der

stroke unit

Logopädie und Ergotherapie, die sie doch auch sehr gut gebrauchen könne. Auf der Inneren würde sie nur herumliegen.

Das stimmt.

Sie fängt an zu sprechen. Noch kann sie es gar nicht fassen. Es ist nicht viel, und oft ist es offenbar falsch, was sie sagt. Matthes war heute wieder da und fragte, was es zu essen gegeben habe. Sand. Als er nachfragte, sagte sie wieder Sand. Er wiederholte es, und da fiel ihr natürlich auf: Sand war völlig falsch. Quark hatte sie sagen wollen. Quark mit Kartoffeln. Sie haben gelacht.

Matthes sagte, dass ihre Verlegung auf die

stroke unit

beschlossene Sache sei. Wann schafft er das? Ist er etwa länger hier im Krankenhaus, als sie annimmt?

Die Frau im Bett am Fenster bekommt oft Besuch. Ihr Mann und ihr Sohn kommen. Der Sohn ist etwa zwölf Jahre alt. Frau Schröder scheint wenig zu verstehen. Verständigen kann man sich nicht mit ihr. Mann und Sohn lachen viel. Sie scheinen sie in diesem Zustand schon gut zu kennen, es ist keine Überraschung für sie, dass sie sie nicht versteht.

Heute fragt sie Matthes, was passiert ist.

Was passiert?

Du hattest eine Hirnblutung,

sagt er.

Ein Aneurysma ist geplatzt.

Sie ist platt. Das hätte sie nicht erwartet. Sie erinnert sich verschwommen, über Aneurysmen vor nicht allzu langer Zeit viel gelesen zu haben. Warum eigentlich?

Du bist operiert worden. Zwei Mal. Beim ersten Mal hat man das Aneurysma geclippt, beim zweiten Mal den Abflussschlauch von einem in den anderen Ventrikel verlegt.

Sie hat alles gehört. Mit dem Verstehen muss sie sich Zeit lassen.

Aneurysma klingt schön, findet sie. Ein weiblicher Vorname.

Aneurysma Wesendahl

Sie suhlt sich in der Vorstellung, Aneurysma zu heißen.

Der Pfleger kommt schwungvoll und mit seiner Art Spaß auf den Lippen ins Zimmer.

Na, Helenchen, hamwa jut jeschlafen?

Nööö, Hartmutchen.

Er lacht. In der Tat hatte sie heute Nacht wieder einen Angstanfall. Sie vermutete einen großen Brand um sich herum. Aufgeregt klingelte sie nach der Schwester. Es kam die netteste, die sie hier haben. Sie strich ihr über den Kopf, machte das Licht an. Sie erinnert sich, etwas gesagt zu haben. Was, will ihr nicht mehr einfallen. Die Nette sagte, sie bedrohe hier nichts und niemand. Sie merkte, wie sie der Netten das abzunehmen begann. Seit sie hier ist, war es das erste Mal, dass sie dem Personal so etwas wie Glauben schenkte. Als hätte die Nette die Realitäten wieder geradegerückt, in deren Schiefe sie sich einzurichten begonnen hatte.

Hartmutchen bringt dich jetzt rüber, stroke unit!

Endlich.

Sie wird auf der Toilette alleingelassen, bis sie die Schwester wieder hereinruft. Sie wird in einen Gemeinschaftsraum gefahren und bekommt richtiges Essen. Sie wird beturnt. Sie bekommt Besuch.

Heute ist Natascha wieder da, die Tochter ihres Mannes. Natascha ist schon siebenundzwanzig.

Matthes hat Helene in den Rollstuhl gesetzt und mit hinuntergenommen in die Krankenhauscafeteria, wo sie ein Eis isst. Natascha hat ihr eine platte Muschelschale vom Atlantik mitgebracht. Sie war in Frankreich.

Blitzartig kommt die Erinnerung: Helene liest Natascha vor. Sie ist vier. Als Freundin der ersten Matthes-Familie ist Helene über Nacht dort geblieben, und Natascha ist in der Frühe in ihr Zimmer gekommen, um sie zu wecken und zum Frühstück zu holen. Sie trägt ein Unterhemdchen mit kurzen Ärmeln und einen grau gewaschenen Schlüpfer. Eine Geschichte möchte sie hören. Ihr Bruder Mischa ist zwei Jahre alt.

Ebenso blitzartig kommt die Erinnerung, dass sich Mischa vor drei Jahren von einem Intercityexpress überrollen ließ.

Der Natascha-Besuch endet in Tränen.

Sie ist nicht in der Lage zu sagen, warum sie weint.

Visite.

Die Schwester erzählt, dass sie in der Nacht weinend nach ihr gerufen habe, weil sie sich bekackt hatte. Seltsamerweise hatte sie nichts dazu sagen können, nur die Decke beiseitegeschoben und auf die Stelle gewiesen … Es stank und begann schon zu stacheln, zu brennen, wie sie es in Erinnerung hat. (In welchem Alter hat sie sich denn das letzte Mal bekackt?)

Wenn sie so depressiv ist, müssen wir die Dosis erhöhen.

Aber nein, sie ist doch nicht depressiv! Darf man nicht mal weinen, wenn einem was peinlich ist?

Nein, … will … nicht … Atidepprissum!

Wirklich? Das sollten Sie aber wollen, das ist nicht leicht für Sie jetzt.

Nicht leicht?

Sie staunt. Darüber, dass sie keine Trauer verspürt.

Welches Mittel ist … gegen Trauer?

Die Schwester sieht sie fragend an.

Gegen — Trauer, gegen — Weinen!

Verdammt, im Augenblick, da sie das Wort Antidepressivum aussprechen will, ist es fort. Kommt zurück. Nächster Versuch. Wieder ist es im Augenblick des Sprechens verschwunden.

Das ärgert sie so, dass sie wütend wird.

Sie schnaubt.

Na, nu lassen Se man Ihre Wut stecken, ick kann doch ooch nichts dafür!

Anti-…, Anti…dep-prissum,

radebrecht sie.

Ach so!

Die Schwester lacht und zeigt auf eine kleine Tablette in der Schale. Komisch, dass solche winzigen Pillen große Trauer wegziehen sollen.

Sie nimmt die Tablette aus der Schale und legt sie daneben. Die anderen schluckt sie. Es ist ein Antibiotikum dabei gegen Harnwegsinfekte. Das braucht sie eigentlich nicht, denn asymptomatische Bakteriurie begleitet sie, seit sie erwachsen ist.

Aber das kann sie nicht sagen.

Das Antidepressivum liegt immer wieder in ihrer Schale. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie es nicht nimmt, aber niemand registriert das. So ist schon eine hübsche Pillensammlung in ihrer Schublade zusammengekommen. Sie überlegt, wem sie die schenken könnte. Ihr fällt nur Raphael ein. Raphael will heute oder morgen zu Besuch kommen. Raphael ist depressiv, lehnt es aber ab, Antidepressiva zu schlucken, weil er Angst vor der Abhängigkeit hat. Ihm kann sie die Pillen also nicht schenken. Außerdem geht es ihm meist gut, wenn er jemanden zum Betutteln hat. Dass sie so schnell zu jemandem werden könnte, den Raphael betutteln kann, hätte sie nicht gedacht.

Sie seufzt.

Morgens kommt die Ergotherapeutin. Sie übt Anziehen mit ihr. Viel kommt nicht dabei heraus. Mit links Zähne putzen geht gut. Zahnpasta auf die Bürste drücken, Wasser in den Becher laufen lassen — einhändige Abenteuer. Den Waschlappen kriegt sie zwar nass, aber die Kraft der linken Hand reicht nicht aus, das Wasser so weit wieder herauszupressen, dass sie sich unbeschadet das Gesicht waschen kann. Hinterher sieht sie aus wie ein begossener Pudel. Zum Glück ist es warm, und die Wäsche trocknet schnell wieder. Nach der Morgentoilette nimmt die Ergotherapeutin sie zum Frühstück in den Gemeinschaftsraum mit. Sie bekommt ein Brettchen mit Nägeln und Saugnäpfen. Es wird am Tisch befestigt. Das Brötchen drückt sie in die Nägel und versucht, es mit der linken Hand aufzuschneiden. Schweiß trieft. Sie bestreicht es mit Butter und Marmelade und lässt es sich schmecken. Seit gestern bekommt sie keine Schnabeltasse mehr. Die Flüssigkeit läuft am Kinn herunter, sie bekommt nicht alles in den Mund hinein. Die rechte Gesichtshälfte ist gelähmt. Sie lacht, als sie sich vorstellt, wie sie mit halbem Gesicht lacht.