Bravo!
gerufen …
Kennen wir uns?
hört sie Frau Trautenau sagen,
Sie sehen mich so an?
Mal sehen
, rutscht es ihr heraus, im gleichen Augenblick erschrickt sie über die sinnlose Antwort.
Erst als sie längst aus dem Raum verschwunden ist und in der Umkleidekabine der Schwimmabteilung sitzt, raunt ihr Maljutka zu, dass das ja nun keinesfalls eine sinnlose Antwort gewesen sei.
Oder?
Schwimmen ist schön. Wie immer.
Das heißt, schwimmen kann Helene natürlich noch lange nicht, sie kann mit dem rechten Bein inzwischen ein wenig die nötige Bewegung nachahmen, aber der rechte Arm macht nicht mit. Sie geht sofort unter, so ohne Wasserwurst. Aber den toten Mann darf sie heute nach Belieben geben. Neben ihr ist eine Dreiergruppe im Wasser, motorisch nicht eingeschränkte Patienten, die so etwas wie Aquagymnastik betreiben. Die Musik ist zu laut, dröhnt, vergällt ihr das Totsein. Auch Maljutka verzieht angewidert das Gesicht. Also versucht Helene, einbeinig und unter Festhalten, nachzuahmen, was die Randdame vorturnt. Hampelmann. Sie steht, die rechte Hand an der Beckenrandstange, brusttief im Wasser und versucht, das linke Bein abspreizend, die linke Hand hochreißend, zu springen. Dann die Hand wieder runter, an die nicht vorhandene Hosennaht, und das Bein in die Ausgangsstellung. Gar nicht schlecht, so ein einbeiniger Invalidenhampelmann. Nach fünf Sprüngen wird ihr aber die Luft knapp, das Herz überschlägt sich. Es war zu viel. Seltsam, dass ihr das Maß für körperliche Anstrengung völlig zu fehlen scheint. Nie hätte sie gedacht, durch solche Kleinigkeiten derart außer Atem zu geraten. Sie hält ein, hält inne, ihre Einzel-Therapeutin ist nicht zu sehen. Da fällt ihr ein, wie sie nach dem Erwachen aus dem Koma die kleinen Federn hatte zusammendrücken, wie sie eine Kugel zum Fliegen hatte bringen sollen durch Lufteinblasen in jene merkwürdige Apparatur. Das hatte sie überhaupt nicht geschafft.
Es war erst drei Monate her.
Merkst du denn nicht, dass nicht mal die Enten nicht näher herankommen wollen?
Dieser Fragesatz, von einer Mutter ausgesprochen, als ihr unten am See im Wagen geparktes Kind laut schrie, beschäftigt sie nun schon den ganzen Nachmittag. Ganz abgesehen davon, dass das Kind viel zu klein gewesen war, um einen solchen Satz überhaupt auf sich beziehen zu können, ist Helene verzweifelt, weil ihre Proben aufs Verständnis grundsätzlich misslingen. Die doppelte, die dreifache Verneinung ist ihr zu hoch, sie kommt einfach nicht hinterher.
Merkst du denn nicht?
Doch, doch, merken kann sie schon. Aber
dass nicht mal die Enten nicht näher herankommen wollen
, erschließt sich ihr einfach nicht. Was blockiert da in ihrem verdammten Schädel jegliche Logik? Sie erinnert sich, früher solche Sätze einfach von hinten aufgedröselt und schließlich, in jedem Fall! zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Entweder war die Verneinung, doppelt oder gar dreifach, sinnig, unsinnig oder spitzfindig gewesen. Was aber bedeutet sie hier? Die Enten wollen nicht näher herankommen? Aber sie wollen doch nicht nicht näher herankommen! Was heißt das? Nicht nicht? Konfusion in ihrem Kopf, sie ist unruhig, fahrig geworden, es regt sie unglaublich auf, solche Defizite zur Kenntnis nehmen und damit umgehen zu müssen, dabei würde jeder hier, dem sie davon verschämt Mitteilung machte, nur lachen und meinen, dass es sich doch dabei um eine Lappalie handele. Dass er oder sie selbst Schwierigkeiten hätte mit doppelten Verneinungen und dass es sich nicht lohne, sich darüber aufzuregen. Wie hatte Matthes gesagt, als sie ihn auf sprachliche Defizite ansprach, die sie immer wieder bei sich bemerkt?
Ach Helene, du bist doch nur endlich normal geworden …
Das war ein Satz, der einerseits vermutlich seine Hochachtung vor ihrem Sprachvermögen ausdrückte. Andererseits fühlte sie sich durch ihn seltsam bedroht, ohne dass sie genau sagen konnte, warum. Das Gefühl der Gefahr, die von diesem Sätzchen ausging, ist ihr deutlich und präsent, sooft sie es aufruft, nur lokalisieren kann sie sie nicht. Das Nachdenken darüber gelingt nicht, es verflüssigt sich, sie stellt sich vor, dass es in den Fugen zwischen den Hirnwindungen versickert, versackt, ehe sie es hätte festhalten können. Ganz ähnlich ist es mit den doppelten Verneinungen, die ihr solches
Kopfzerbrechen
bereiten. Ja, ihr Kopf war zerbrochen, ein gutes Stück Schale war abgenommen, zum Glück sofort wieder aufgesetzt worden. Problemlos eingeheilt. Bestimmt war es für die Dauer der Operation tiefgekühlt worden. Wenn sie sich die Haare wäscht, spürt sie die Temperatur des Wassers nicht auf einem großen Teil der linken Schädelhälfte. Sie findet das eigentlich seltsam, denn die Haut hatte man doch einfach nur aufgeklappt, sie hatte doch Wärmerezeptoren, die nicht ausgeschaltet worden sein konnten während der Operation! Schiebt sie das vielleicht auf den tiefgekühlten Knochen? Dass er sich nicht erholt hat von dem Schock und die Hautrezeptoren blockiert? Jetzt schlägt sie mit der linken Hand auf den Schädel ein, wenigstens das merkt sie.
Verzweiflungsanfälle häufen sich. Seit der epileptischen Attacke, wenn sie es recht bedenkt. Noch immer hat sie den Ärzten hier nicht gestanden, dass sie das Antiepilektikum nicht mehr einnimmt. Wundert sich, dass keine Blutkontrolle ansteht, die sie von alleine auf den Trichter bringen würde. Es müsste doch überprüft werden, ob die Dosierung stimmte! Nur auf ausdrückliches Befragen hin würde sie das zugeben, nimmt sie sich vor. So schlampig, wie das hier gehandhabt wird …
Über alldem hat sie den Verzweiflungsanfall aber schon beinahe hinter sich gebracht. Womöglich ist das Entlangrennen an Gedanken, die sich aneinanderreihen wie Häuser einer endlosen Straße (man nimmt sie während der Bewegung wahr, vergisst sie aber sofort wieder), eine — oder ihre? — Methode, mit solchen Attacken fertig zu werden.
Noch fünfzehn Minuten bis zum Abendbrot. Sie hat sich eine Zeitung gekauft heute, schlägt sie auf. Auf der Berliner Lokalseite prangt ein Foto von jemandem, den sie kennt. Der
Schadhafte
sitzt da, im Rollstuhl an einem Tisch, benommen von Neugier versucht Helene zu lesen, muss innehalten, unterbrechen, von vorn beginnen, noch einmal und noch einmal, bis sie versteht.
Wojziech K., steht da, war Opfer des
U-Bahn-Schubsers
geworden, war am helllichten Tag, die Geige auf dem Rücken, von ihm vor einen einfahrenden Zug gestoßen worden. Ein begabter Geiger sei er gewesen, der seine Zeit mit Musik und Informatik verbrachte, zwischen denen er sich noch nicht hatte entscheiden können, was seine Zukunft betraf. Diese Entscheidung war ihm ja nun wenigstens abgenommen worden, denkt Helene und schämt sich auf der Stelle des Zynismus, der sich da breitmacht. Es ist ein mutloser, instinktiver Zynismus, mit tiefem Bedauern vermischt, mit einer riesigen Mitleidswelle im Bug, denn sie denkt an Bengt, den angehenden Musiker, und daran, wie unglaublich es war, auf diese Weise um sein Leben gebracht zu werden und doch am Leben bleiben zu müssen. Sie liest den Artikel noch mal und noch mal, der Täter steht vor Gericht, Wojziech K. ist als Opfer fotografiert worden, ein Bild des Täters gibt es nicht. Ob ihm das recht ist? denkt Helene, ob ihn jemand gefragt hat vor dem Fotografieren? Ein Basecap trägt er, sodass das Fehlen eines Teils der Schädeldecke nur ahnbar ist. Seine Beine sind unter dem Tisch verschwunden, und er trägt eine dunkle Lederjacke, ein Ärmel wurde in die Tasche gesteckt. Offenbar konnte er sich zum Tathergang äußern. Der Täter wurde für schuldunfähig erklärt und in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen, steht da. Stimmen habe er gehört, die ihm befohlen hätten, Leuten etwas zuzufügen, die Welt von ihnen zu befreien. Wojziech sieht so gefasst aus, nein,