mild
und
sanft
sind die besseren Worte! als könne er dem psychisch kranken Täter nachsehen, was er angerichtet hat mit ihm. Wenn sie überlegt, so hat sie ihn tatsächlich einige Tage schon nicht mehr gesehen in Heidemühlen. Nicht, dass sie ihn gesucht und nicht gefunden hätte, dennoch fällt ihr sein Fehlen nun auf. Man könnte ihn entlassen haben oder verlegt für die Prozessdauer, um die Strapazen so gering wie möglich zu halten. Sie wird ein Auge darauf haben, ob er wieder eintrifft, sagt sie sich. Wird zum Essen jedes Mal durch den linken Saaleingang gehen, am Tisch vorbei, an dem sie früher gesessen hatte, und dann auf die rechte Seite wechseln, zum Club der alten Männer. Den Umweg nimmt sie gerne in Kauf. Sie überlegt, Wojziech anzusprechen. Wenn sie es aber bislang nie getan hatte, so wäre das Prozessgeschehen auch kein guter Anlass, Kontakt aufzunehmen.
Eine geschlagene Stunde hat sie nun hier gehockt und mit rotem Kopf Zeitung gelesen, sie hat gar keinen Appetit mehr. Das Abendessen neigt sich ohnehin dem Ende entgegen. Stattdessen überkommt sie Heißhunger auf Schokolade, der Serotoninspiegel ist zu niedrig im Gehirn, muss sie denken, es ist Abend, es wird schon früher dunkel, das Hirn braucht Licht und Tryptophan, um Serotonin herzustellen. Irgendwo hatte sie das mal gelesen, komisch, dass sie es behalten hat. Sie knipst also das Zimmerlicht an, nicht nur das Leselämpchen, und wühlt im Schrank — Matthes hatte ihr gestern ihre Lieblingsschokolade, Vollmilch mit Rosinen und Nüssen, mitgegeben. (Sie ist doch tatsächlich versucht, das Tryptophan herausschmecken zu wollen, das in der Schokolade enthalten sein soll.) Schonend und liebevoll will sie es behandeln, ihr Hirn, ihm alles geben, was sie kann, um es wieder aufzuräumen, und als die Schokolade aufgegessen ist, die ganze große Tafel, sitzt sie am Fenster und wartet auf das Glück. Es kommt tatsächlich, als plötzliche Erleuchtung: …
dass nicht mal die Enten nicht näher herankommen wollen
— das ist doch Quatsch! Das hat die Frau doch ganz falsch gesagt! Das hieße doch, dass die Enten eigentlich einen Drängelschub in Richtung Kind unternommen hätten, sie waren aber weit weg geblieben!
Merkst du denn nicht, dass nicht mal die Enten näher herankommen wollen?
Ja, so wird ein Schuh draus.
Was Schokolade so alles kann …
IV. DU. UND DU
EIGENTLICH IST ES GUT
, in Ruhe gelassen zu werden vom Personal. Es macht nichts, dass es zu wenig davon gibt. Heute hat sich seit dem Nachmittag niemand mehr bei ihr blicken lassen. In der Teeküche hat sie sich aber nach der Schokolade eine große Kanne Rooibostee gekocht und ihren Nachbarn gebeten, sie in ihr Zimmer zu tragen. Er machte Anstalten, ein Weilchen bleiben zu wollen, und sie hatte dem Wunsch nachgegeben, innerlich murrend. Als er zum Glück wieder weg war, hatte sie nicht viel gesagt. Letztlich hat sie nun schon einige Übung darin, mit ihrem drückenden Schweigen andere zu vertreiben, was ihr, zugegeben, gefällt.
Als sie das Schubfach des Nachtschrankes öffnet, nimmt sie Maljutkas Muranoglasspange heraus, darunter liegt die Diskette. Am liebsten würde sie die Spange in den Laptop einschieben … Aber was soll das! ruft sie sich zu, aber das muss ich doch wollen sollen! Hier hat sie doch die Chance, mitten hineinzutauchen in die Maljutka-See, sich zu aalen im warmen Viola-Wasser! Was hält sie ab? Erschrocken schiebt sie die Lade zu, als hätte sich die Diskette bewegt, wäre auf sie zugekommen mit scharfem Zischen, hat sie nicht eben ein scharfes Zischen gehört?
Verharren. Umschau. Verharren.
Lade wieder auf, langsam, die Diskette liegt unverändert. Keine Erleichterung, seltsam. Sie nimmt mit rascher, nun entschlossener Bewegung das Ding in die linke Hand, der Laptop wartet, verschluckt es schnappend. Sie staunt. Nur drei Mails, dabei hatte sie doch gedacht, ein ganzes Archiv angelegt zu haben! Dass Matthes damit zu tun hat, ist ausgeschlossen, sie selbst muss entweder ausgewählt und gelöscht haben, oder ihr ist ein Fehler passiert. Mails, die sie geschrieben hatte, finden sich überhaupt nicht, lediglich drei von Maljutka …
04.05.2002 01:43
Mein allerliebstes heliotropes Herzbeutel-Helenelein,
trotzdem: Du bist es. Deine Stunden sind auch meine Stunden, die Distanz beträgt etwa
50
Kilometer, vielleicht
170
Lichtmillisekunden, was ist das schon zwischen Deinem und meinem Leben. Kosmisch gesehen, wohnen wir exakt am gleichen Ort, wir brauchen uns nur mal auf den Mars zu stellen. Überhaupt ist es mir immer wieder tröstlich, die kosmische Perspektive einzunehmen, in der meine Existenz zur Nichtigkeit schrumpft. Ist doch schön, wenn der Schmerz nachlässt, hat meine olle Mutter immer gesagt. Recht hatte sie.
Ich malere meine Wohnung, habe es so beschlossen. Gestern habe ich mit dem Wohnzimmer angefangen. Das Rausräumen der Bücher und der riesigen Computeranlage hat mir den halben Tag weggefressen, das Sofa und die Sessel habe ich mithilfe des Schwarzen, der seit drei Wochen in unserem Haus wohnt, auf meinem Bett gestapelt, mal sehen, wo ich heute Nacht schlafen werde. Die Bücherschränke habe ich abgerückt von der Wand, ein Stück zunächst, bis ich dazwischenpasste, dann stieß ich mich mit den Händen langsam ab und schob die schweren Dinger bis in die Mitte des Zimmers. Weißt Du, was sich sozusagen drum herumkringelt? Der alte Eichenholztisch, den ich auf die Seite gelegt habe, drei Schränke passen zwischen seine Beine, ich hätte ihn alleine sowieso nicht durch die Tür gekriegt, sondern hätte den Schwarzen — Herrgott, warum weiß ich nicht mal, wie der heißt? — wieder bitten müssen. Vor allem aber: Es gibt in der ganzen Wohnung kein Plätzchen mehr, an dem ich ihn hätte parken können, da bin ich richtig stolz auf meine Umlegeidee! Das Fenster und den Rahmen habe ich mit Folie abgedeckt, mir war das bei der letzten Aktion dieser Art noch völlig egal gewesen, und auch die Scheuerleisten habe ich abgeklebt, das Zimmer mit Zeitung ausgelegt und die Folie auch über die Möbel geworfen. Das Malern selbst, Decke weißen und Wände in einem warmen Orangeton streichen, terrakotta nennt sich das Zeug, war dann eher eine Nebensache, ich habe absolut nicht auf die Zeit geachtet und mich gewundert, als kurz nach Mitternacht die Tauber von unten wutentbrannt bei mir klingelte und sich über das Gepoltere beschwerte, dessentwegen sie kein Auge habe schließen können bislang. Hehehe, Gepoltere! Ich habe doch nichts anderes gemacht, als den Roller mit der Farbe hoch- und runterzuziehen an der Wand! Aber kann schon sein, dass in einem leeren Zimmer ohne Teppich die Schallverhältnisse andere sind, außerdem war ich, ehrlich gesagt, froh, dass mich jemand an die Zeit gemahnte. Bin noch baden gegangen, zum Glück hatte ich die zunächst in der Wanne deponierten Bücherkisten wohlweislich wieder herausgenommen und sie in die Küche verfrachtet, unter den Tisch. Irgendwie hatte ich wohl gedacht, die Wanne als Schlafplatz zu brauchen … Jedenfalls sitze ich jetzt frisch und sauber am provisorisch eingestöpselten Computer und schreibe der Frau, die mich nicht schlafen lässt, so oder so. Wundere mich beidieser Gelegenheit wieder mal beinahe darüber, dass ich immer Frauen geliebt habe in meinem Leben.