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Mach’s mal gut!

Deine mümmelnde Mumbaimaljutka

Mümmelnde Mumbaimaljutka! Sie hatten sich alliterierende Namensungetüme verpasst, ein versteckter Wettstreit war das gewesen zwischen ihnen. Helene hatte nur das M zu bieten gehabt, während Maljutka Malysch auch das Viola-V akzeptierte, die Wahlmöglichkeiten waren also für Helene größer gewesen.

Jetzt erinnert sie sich, wie sie nach Erhalt dieser Mail gelacht hatte, weil auch im Arberstraßenhaus Renovierung angesagt war. Just am selben Tage hatte Helene begonnen, in ihrem Arbeitszimmer die Raufasertapeten von der Wand zu reißen. Das war ein aussichtsloses Unterfangen gewesen, denn man hatte die Rigipsplatten offenbar nicht mit Tiefengrund behandelt, ehe die Tapete aufgebracht worden war. Nach einem halben Tag unausgesetzter Versuche des Tränkens der Wand mit Wasser, des Durchlöcherns mit der Igelwalze, des Bedampfens mit dem Bügeleisen, hatte sie es aufgegeben, hatte die neuen Tapeten in der zweiten Hand zum Verkauf angeboten und Farbe geholt aus dem Baumarkt.

Terrakotta …

Schließlich hatte sie nur eine einzige Wand damit gestrichen, die Dachschräge, sie glaubte ohnehin schon, der Farbton erschlüge sie mit seiner Sattheit. Vergrätzt hatte sie nicht zugeben wollen, dass die Aktion misslungen war. Wenigstens passte das Schrankmonster ganz genau unter die Schräge. Sie hatte das Büfett-Oberteil als Sperrmüll am Straßenrand stehen sehen, als ein Haus in der Nachbarschaft entkernt worden war, hatte es mit Lissy und Mareile in den Keller geschleppt und einen Hobby-Restaurator angerufen, den sie als Büchersammler kennengelernt hatte. Sofort hatte er das gute Stück abgeholt, hatte es dunkel gebeizt, mit Schellack überzogen, Kugelfüße angepasst und in die breite, unten offene Mitte Bretter eingefügt, sodass man ihm die Existenz als Oberteil nicht mehr abnehmen wollte. Im Gegenzug hatte er nicht etwa Geld gewollt, sondern dass sie ihm einen bibliophilen Gedichtband, den sie vor zwei oder drei Jahren publiziert hatte, um einen handgeschriebenen Text erweiterte. (Wohlgefühlt hatte sie sich bei dem Geschäft und daraufhin das Internet nach Tauschringen durchsucht.)

Später hatte sie ihre Mappe mit Grafiken durchgesehen, sich dann aber für Zeichnungen der Kinder entschieden, die sie an die schräge Wand pappte und so dem aufdringlichen Orange die Spitze nahm. Drei Monate war sie nun nicht in ihrem Arbeitszimmer gewesen, die Heizperiode hatte schon begonnen, bestimmt hatte Matthes die Heizungen zugedreht, und es war kalt dort oben. Je mehr sie in Gedanken in ihrem Zimmer herumwirtschaftet, desto fahriger geht ihre Hand auf und ab, in ihrem Gesicht, ihrer Kleidung, bis zu den Füßen sogar, und sie spürt rechts den Impuls, es der linken gleichzutun. Woher diese Unruhe? Woher diese flatterige, auf was auch immer gerichtete Ungeduld?

05.05.2002 22:47

Mein allerliebstes heruntergekommenes

Heringsfang-Helenelein,

trotzdem: Du bist es. Wenn ich mir vorstelle, morgen nicht mehr leben zu sollen, so überkommt mich ein seltsam süßes, beinahe verzücktes Gefühl, dass es Dich gibt, dass Du da bist und dass ich nichts mit Dir zu tun haben muss, um beseligt zu sein. Das ist neu, und es beruhigt ungemein. So ruhig war ich beim Malern noch nie. Noch nie war es aber auch so einfach, mit den Folgen klarzukommen: Heute früh habe ich einfach Folien und Papiere abgenommen, und alles war wie geleckt, ganz sauber! Beim letzten Mal hatte ich einen halben Tag dranhängen müssen, um mit den Kleckereien klarzukommen, die Wandfarbe war natürlich längst angetrocknet, und das Fenster hatte ich sogar mit einem Cerankochfeld-Schaber bearbeiten müssen, um es sauber zu kriegen. Heute nun habe ich das Fenster nur geputzt, mit Essigwasser und Zeitung, und kämest Du hier herein, würdest Du wahrscheinlich, geblendet vom einfallenden Licht, ein Stück zurücktaumeln. Ich würde Dich festhalten, damit Du nicht fällst. Das wollte ich schon immer tun, seit ich Dich das erste Mal sah. Wir würden uns in das schöne terrakottafarbene Wohnzimmer setzen, die Schränke habe ich alle mit Möbelpolitur bearbeitet, Schrauben festgezogen, wo sie locker saßen, den Teppich in die Reinigung gebracht. Wir würden uns also setzen, und solltest Du etwas zu sagen haben, wäre es schön. Solltest Du nichts zu sagen haben, wäre es genauso schön. Die neue, ungewohnte Ordnung in meinem Zimmer gibt mir irgendwie Halt, mal sehen, wie lange das anhält. Noch räume ich penibel alle verräterischen Spuren meines Tuns und Lassens beiseite. Keine Orangenschalen, keine Bierflaschendeckel. Sogar die Zeitungen kommen in einen Karton, den ich in Collagemanier beklebt habe, links unter meinem Computertisch. Nun haben wir zwar erst Tag

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nach der Renovierung, will sagen, eigentlich bin ich erst seit knapp einer Stunde mit dem Ein- und Aufräumen fertig (der Schwarze war wieder da, und ich weiß jetzt, wie er heißt!), aber ich merke, dass ich mich an der Ordnung in diesem Raum festhalte wie an einem Krückstock, den ich mir selbst geschnitzt habe. Noch ist er vielleicht gar nicht fertig, denn das, was in der einzigen Vitrine steht und Nippes genannt wird von meiner Mutter, bringt mich ganz durcheinander. Vermutlich muss ich die Vasen und Tässchen und Schächtelchen und Statuetten rausschmeißen, sie fühlen sich alle zusammen wie ein Fremdkörper an. Im Moment koste ich dieses Gefühl noch aus, es ist mir völlig neu, mich den geordneten Dingen in meinem Zimmer unterzumischen und etwas zu haben, was dem so gänzlich entgegensteht. Man sieht viel besser, wie die anderen Dinge und man selbst zueinanderpassen, wenn da etwas ist, was die Eintracht stört. Du aber bist in Gedanken immer auch hier, ich sehe Dich nicht nur, wenn ich die Augen schließe, Du passt so gut in diesen neu gewonnenen Raum, dass Du gar nicht herkommen musst, um das zu beweisen. Ich bin dabei, mich mit Dir ohne Dich einzurichten, ich danke Dir für die Ordnung, die Du meinem Leben gegeben hast.

Deine merschwütig mobile Mitwissermaljutka

Helene sieht sich um in ihrem neutral und sachlich eingerichteten Zimmer. Die Wände und der Teppichboden mintgrün, die Stühle bordeauxfarben gebeizt, mit grünem Polster, Schränke, Bett und Tisch beigefarben gestrichen. Bislang hatte sie das alles nur einzeln sehen können, hatte keinen Blick für die Summe der Gegenstände übriggehabt. Auf einmal fühlt sie sich selbst wie der Fremdkörper in dieser rechtschaffen geradlinigen Anordnung, wie der Nippes in Maljutkas beschriebenem Terrakotta-Zimmer. Sie ist ungekämmt, trägt ausgebeulte Jogginghosen und einen hässlichen grünen Pulli mit rotem Aufdruck, die Hausschuhe haben schon bessere Zeiten gesehen, und eigentlich könnte ihr mal jemand die Nägel schneiden, denkt sie, das letzte Mal ist schon sehr lange her. Besonders die Fußnägel, und jetzt zieht sie sogar den rechten Schuh aus und sieht nach, sind sehr lang, zum Teil splittern sie, da kann sie froh sein, keine Feinstrümpfe zu tragen. Dicke, selbst gestrickte Socken hat sie an.

Früher

hat sie oft Socken gestrickt, es war ihre Nachrichtenbeschäftigung gewesen, und auch bei den seltenen Fernsehabenden hatte sie manchmal, wenn keine Bügelwäsche anstand, zu den Nadeln gegriffen. Hatte sie nicht sogar für Maljutka …? Aber ja! Ein Paket Wollsocken hatte sie ihr geschickt, das musste noch vor der Renovierungsaktion gewesen sein, denn im Zuge der Vorbereitungen dafür hatte sie ihr Vorratsfach Männersocken leer geräumt, alle in Größe

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gestrickt, für Vater, Schwiegervater, Freunde, dreizehn Paar waren es gewesen! Sie sieht sich beim Packen: eine große Hirschsalami, die Maljutka so mochte, vom Biohof in Krummensee, dazu ein Glas Traubengelee, das Maljutka wahrscheinlich so wenig mochte wie alles Süße, und — eine Diskette hatte sie ins Paket gepackt. Das war die richtige Angorakaninchendiskette gewesen, die mit dem roten Punkt. So viel Packband hatte sie verbraucht damals, dass ihr noch jetzt die Arme ganz schwer werden davon: Rastlos hatte sie Runde um Runde abgerollt, als wollte sie alles, alles was mit Maljutka zu tun hatte, so fest verpacken, dass es niemals mehr herauskommen konnte. Ganz schwindlig war ihr geworden davon, und als das Paket bei der Post abgegeben worden war, hatte sie vor der Tür erst einmal verschnaufen müssen, durchatmen, innehalten. Sie war dann zu Matthes’ Arbeit gefahren, etwas, was sie in den vergangenen zehn Jahren höchst selten getan hatte, und wenn, dann nur auf ausdrückliche Einladung oder Vereinbarung hin. Sehen wollen hatte sie ihn, wie er aussah, wenn er nicht mit ihr rechnete. Matthes war nicht da gewesen, sondern hatte sich bei irgendeiner Sitzung, einem anschließenden Hausbesuch herumgetrieben, sodass sie sich beinahe wehmütig der Zeiten erinnert hatte, da sie noch alle Morgen einander auseinandergesetzt hatten, was heute anlag, anstand. In den letzten Jahren, insbesondere, seit sie in der Arberstraße wohnten, war dieses Mitteilen allmählich weniger geworden, bis es ganz ausgelaufen war wie die Milch aus einem alternden Euter. Ja, sie war auf Wiederbelebung aus gewesen, hatte die Mattheskiste aus dem Dreck ziehen wollen und nicht gestört werden dabei von Maljutka, mit der alles so neu war, so lebendig, so wenig eingefahren, dass sie nur wehmütig daran denken konnte, wie hinreißend Matthes, wie berückend, betörend, köstlich, bestrickend, fesselnd sehr, sehr viel früher beinahe jede gemeinsame Stunde gewesen war, und je stärker sie darauf aus gewesen war, sich Matthes erneut ganz unbedingt und vollständig zu überlassen, nach ihrer Märznacht mit Maljutka, desto mehr hatte ihn der Zweifel gepackt, desto mehr war er ausgerückt vor ihr. So weit hatte er sich von ihr entfernt, dass er Mitte April, zwei Tage vor dem Weibertreffen im Charlottenburger Café, in sein Arbeitszimmer gezogen war und Frau Wierbels Schrank über den Balkon hinaufgewuchtet hatte. Jetzt, da es ihr einfällt, kommt auch das Weinen sie wieder an, das damals nicht hatte enden wollen und dazu geführt hatte, dass sie sich in ihrem Zimmer einschloss. Ob sie nun über den vermeintlichen Untergang der Mattheskiste im Sumpf der Zeit geheult hatte oder aber darüber, welche Distanz zu Maljutka bestand, obwohl sie doch nur fünfzig Kilometer entfernt von ihr lebte, ist ihr damals genauso wenig klar gewesen wie heute. Nach Charlottenburg war sie zwei Tage später gefahren mit festem Vorsatz, den sie heute nicht wiederholen könnte. Ja, sie hatte die Beziehung zu Maljutka aussetzen wollen, um die Matthesbeziehung womöglich wieder einsetzen zu lassen, das schon, aber sie hatte die richtigen Worte dafür nicht finden können, und dass ihr das damals schon passiert war, schafft nun sogar eine Insel der Beruhigung in ihrem aufgeregten Überlegen. Da flattert alles, was ein Gedanke hätte werden können, wie ein Schwarm Fledermäuse durch die Dämmerung, aber mittendrin steht sie, gewissermaßen stoisch, und staunt, dass ihr schon früher mitunter die Worte fehlten. Ihr, der die Worte nie ausgegangen waren. Die in Worten geschwommen war wie Matthes in Arbeit. So tröstlich ist das … Noch nie zuvor hatte sie sich in einem solchen Zustand der … inneren Auflösung? befunden, der ein wichtiger Teil von ihr zu trotzen vermochte. Was hat Gott vor, der das Unerforschliche so nahe neben das Offensichtliche packt, dass es kaum auseinanderzuhalten ist?