Helene! Helene! Helene!
hatte es höhnischer als nötig aus Maljutkas Richtung getönt,
immer nur Helene!
Helene! Dich haben ja wohl die Sperlinge aus dem Mist
gekratzt! Ich bin nicht so blöde wie Isaaks schwarzes Schwein!
So in Rage war sie geraten, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie sehr diese Sprüche der vorher geäußerten Bitte nach Helenes Gnade, Helenes Gunst, Helenes Zeitalmosen widersprachen, als sie sich noch ganz kleinmachen und im Unterholz warten wollte, bis die Gönnerin sich sporadisch zeigte. Helene hatte ihren klein gewordenen, zerbröselten Mut erschrocken zusammengerafft und Maljutkas Hände festgehalten, hatte ihr in die Augen sehen wollen, deren fiebriger Glanz sie flackern ließ. Wie Kienspan, hatte sie denken müssen und war immer ehrgeiziger bestrebt gewesen, Maljutka zur Ruhe zu bringen, sie hatten sich schließlich beinahe umeinandergewickelt, sodass das Personal unschlüssig auf dem Sprung stand einzuschreiten, als Helene endlich davongelaufen war. Hatte Mantel und Tasche geschnappt, war aufgesprungen und losgerannt, und jetzt fällt ihr auch ein, worauf sich Maljutkas Trotzruf, das
Trotzdem, Du bist es!
bezog: Helene hatte ihr sagen wollen, dass sie einfach in diesem Zustand keine
gute Partie
sei, dass sie mit Matthes nichts gebacken und ohne ihn nichts auf die Reihe kriegte, dass Matthes sich von ihr zurückzog, je mehr sie, verrückt! auf ihn zuflog, dass sie nicht sagen könnte, weshalb sie sich an Matthes klammerte, wo ihr doch der Sinn auch nach Maljutka stand … Maljutka hatte sie gekitzelt. Gereizt. Sie hatte sich kitzeln lassen. Reizen. Hatte ihrerseits Maljutka betört, bestrickt. Verlockung flockte aus heiterem Himmel herab, wenn sie sich trafen, das wusste Helene nur zu gut.
Sie hatte sich indes stets im Schutz doppelter, dreifacher Seile gewähnt, wenn der Himmel so heiter gewesen war: Maljutkas Schultern waren breit, und Matthes’ Länge und die seiner Arme deckten die zweite und dritte Sicherheitsdimension ab. Seine Art Obhut hatte sie sehr genossen, bis sie ihr angewachsen war wie ein Panzer. Aber darin konnte sie sich nicht mehr frei bewegen. Wahrscheinlich hatte sie einfach schon lange im Panzer gezappelt, ohne ihn aufbrechen zu können. Und um herauszukommen, musste sie sich dematerialisieren und ausströmen, mit all ihren Teilchen.
Für den Moment will es ihr scheinen, sie befände sich in der mühseligen Phase der Rematerialisierung, der Gedanke beginnt sie zu faszinieren, als er auch schon wieder abreißt und sie zu Maljutka zurückbringt.
Nein, sie war nicht die Gnädige Frau, die Maljutka in ihrem Kopf kostümiert hatte. Während ihres anhaltenden Mailwechsels waren sie womöglich dazu übergegangen, einander im virtuellen Raum alle möglichen Eigenschaften anzuhängen, die sie zu gerne wahrnehmen wollten am anderen. Helene hatte Maljutka das, was ihr in der Mattheskiste fehlte, verordnet, und Maljutka hatte so lange schon keine feste Beziehung mehr gehabt, dass es ein Leichtes gewesen war, Helene mit allen nur erdenklichen Funktionen der Heißgeliebten auszustatten. Dabei fehlten ihr doch Hoch-, Lang-, Groß- und Gleichmut, Vor- wie Nachsicht, und die nach Unterwürfigkeit stinkende Lammsgeduld, mit der Maljutka gedroht hatte, setzte ihr zu … Die Versuchung hatte doch lange genug herhalten müssen als Probe aufs Mattheschen! Die wollte sie jetzt bestehen, und wie sie daraus hervorgehen würde, kam erst in zweiter Linie.
Sie war es nicht, hatte sie gedacht, als sie mit hängender Zunge zur S-Bahn geflohen war.
Nein, sie nicht.
Blutprobe, nun doch. Die Schwester sticht die Kanüle aufs Geratewohl in die Armbeuge, eine Vene ist nicht auszumachen. Obwohl Helene die
tiefe Mitte
angegeben hat als die Stelle des wahrscheinlichen Erfolgs, bohrt das Weib seitlich davon in ihr herum, dass es schmerzt, ihr wird beinahe schwarz vor Augen. Schließlich gibt sie auf und holt einen jungen Assistenzarzt, der mit viel Ruhe und Gelassenheit ans Werk geht. Für den weiten sich doch die Venen von selbst, denkt Helene und glaubt für den Moment, sich einen diesbezüglichen Impuls durch den Körper gejagt zu haben. Tatsächlich findet er zeitgleich die richtige Stelle, und zwar genau da, wo Helene angegeben hat. Genugtuung beim Arzt, bei ihr nicht minder. Während das dicke Blut in die Röhrchen läuft, teilt sie ihm plötzlich im Ton heiterer Nebensächlichkeit mit, das Ergenyl chrono nicht mehr genommen, sondern ausgeschlichen zu haben. Lächelt ihn an. Sein fragender Blick macht ihr klar, dass er ja gar nicht Bescheid weiß, natürlich.
Ergenyl chrono?
Nicht nur sein Blick fragt, auch die Stimme tut es.
Sie muss überlegen, wie sie ihm das am besten erklären kann. Ihr graut vor längerem Reden, sie weiß, dass sie nur ein oder zwei Sätze im Voraus überblickt und dann unweigerlich ins Stocken gerät, um erneut ein oder zwei Sätze bewusst vorwegzunehmen. Wenn sie ihr Sprechtempo besser steuern könnte, langsamer sprechen, würde das womöglich niemandem auffallen, denkt sie, aber noch immer will sie freiweg plappern wie einst und gerät nicht nur sprachmotorisch schwer ins Stolpern. Zwar hatte sie auch früher schon mitunter als große Schweigerin gegolten. Es war ihr immer dann schwergefallen, in größeren Gruppen zu reden, wenn das, was sie zu sagen hatte, ihr allenfalls wie eine Wiederholung von Altbekanntem vorgekommen war. Lediglich, wenn sich ein in ihrem Kopf als taufrisch bewerteter Gedanke gezeigt hatte, hatte sie zu reden begonnen. Zudem galt sie in Gruppeninteraktionen als harmonisierend, zusammenfassend und klärend, und sie hatte oft gar nicht verstehen können, wie häufig sich die anderen Gruppenmitglieder wiederholten, offenbar ohne es zu merken. Daraus hatte sie mit den Jahren begriffen, dass sie tatsächlich das Sprechen der anderen von diesen abweichend wahrnahm: Sie strukturierte es, ihr Unbewusstes setzte es in größere Zusammenhänge, und so schwieg sie, bis sich ein Knotenpunkt offenbarte, an dem etwas Neues möglich wurde.
Aber es hatte zudem sehr intime, private Momente gegeben, in denen sie frei von der Leber weg losgelegt hatte, es war ihr ein Leichtes gewesen, spontan in gereimter Rede, mit exaktem Versmaß, zu sprechen, sie hatte Witze am laufenden Band zum Besten gegeben, sie hatte Worte und ganze Sätze im Kopf von hinten nach vorn» vorlesen «können:
etllow run eis eiw
Das hatte ihr Bewunderung eingetragen, deren Gründe sie zuerst gar nicht hatte einordnen können, so selbstverständlich war ihr vorgekommen, dass sie das konnte.
Nichts davon geht mehr.
(Zur Beruhigung flüstert sie sich manchmal ein, dass so ein Gehirnchen, wenn es zerschnitten wurde, erst einmal fertig werden muss mit dem Schrecken. Dass es sich später, viel später erst zeigen wird, welche Funktionen unter den lebenswichtigen, die es ja unzweifelhaft wiederaufzunehmen bereit ist, versteckt sind und sich vielleicht eines schönen Tages erst einmal faul räkeln werden, ehe sie hervorkommen …)
Der Arzt scheint ihren Gedankenlauf durch den Hindernisparcours zu ahnen, er bietet an.
Sie haben eine Epilepsie? Ergenyl ist eigentlich nicht schlecht verträglich, was nehmen Sie denn stattdessen?
Nichts
, antwortet sie dankbar und leichthin, und der Arzt hat verstanden. Sagt nichts. Hält sie vielleicht für nicht zurechnungsfähig? Sie sieht, wie es hinter der Stirn arbeitet. Er lässt sie die Hand öffnen, knotet den Stauschlauch auf, zieht die Kanüle, aber sagt nichts mehr.