Am Nachmittag wird sie zur Stationsleitung gebeten. Drei Ärzte, zwei Schwestern haben sich eingefunden. Das Gespräch ist ähnlich geladen wie jenes zur Psychologie, die sie abgewählt hatte. Sie könne doch nicht einfach. Sie dürfe das nicht. Was verordnet ist. Ist verordnet. Sie alle hätten sich doch was. Dabei gedacht. Im Gegensatz zu ihr. Sie müsse. Zurückstecken. Die Verantwortung trügen sie. Nicht Helene.
Was, ich trage keine Verantwortung?
Da sind sie doch verblüfft, über den aufbrausenden Ton der bis dahin kläglich schweigenden Helene. Die fragt sich, und sie spürt genau die einschießende Beunruhigung, ob die Ärzte die Speichelblasen gesehen haben, die sich an ihrem Mund bildeten, während sie diesen einen Satz sagte. Sie schaut sie an, aber nichts in den Gesichtern deutet darauf hin. Womöglich sind sie so schnell zerplatzt, dass sie nicht wahrgenommen wurden. Wie erginge es ihr, wenn sich am Mund eines Gegenübers Speichelblasen beim Reden zeigten? Wahrscheinlich würde auch Helene sie gar nicht bemerken. Die Beunruhigung verzieht sich nun ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Das ist neu. Sie möchte mehr davon erfahren, wie sie auf andere wirkt. Nehmen sie sie als geistig beeinträchtigt wahr? Als behindert? Wundern würde es sie nicht, sie kann so oft ihre ersten Reaktionen nicht kontrollieren, ärgert sich noch immer maßlos über spontanes Grinsen, Lächeln, Mundverziehen, über Jaja und Neinnein …
Und da ist sie auch sofort wieder, die Beunruhigung.
Helene hat gar nicht zugehört, was die Ärzte auf ihren Satz antworteten, fällt ihr auf. Die Beunruhigung verdoppelt sich auf der Stelle. Sie ist ein abgehängter Karren, der ohne Pferd seine Richtung nicht findet. Nicht einmal dessen» Räder «scheinen sich auf einen Kurs einigen zu können: Sie fühlt Arme und Beine in stetem Widerstreit. Beunruhigung verdreifacht.
Haben Sie nicht auch schon daran gedacht, sich einem Betreuungsverfahren zu unterziehen, Frau Wesendahl? Zum Beispiel könnte Ihr Mann vorübergehend zum Betreuer bestellt werden, da bräuchten Sie sich erst einmal um nichts mehr zu kümmern …
Ach, was reden die da, da hört sie doch gar nicht mehr hin, das wird ihr jetzt aber zu viel, die Kapazität, denkt sie, mit Matthes wollte sie über die Kapazität reden und nicht über ein — Betreuungsverfahren? Das will sie gar nicht wissen, das schiebt sie jetzt erst einmal irgendwo in ein bereitstehendes Schubfach. Lade zu. So.
Die Stimmung kippt. Freundlich werden die Leute! Wo nehmen die das jetzt her? Ihr ungläubiger Blick wendet sich ins Misstrauische. Hab acht, sagt ihr Bauch, da ist was im Busche, da rollt was an, was du nicht übersiehst, was dir aber gewaltige Bauchschmerzen verursachen kann, wenn du nicht aufpasst. Was ist das nur?
Heute gab es Räucherfisch zum Abendbrot. Gewaltige Bauchschmerzen. Helene spürt den Schmerz vor allem im Oberbauch, einen wohlbekannten Druck, der sie seit der Lottchenschwangerschaft in Ruhe gelassen hat. Die Galle. Nur gut, dass die auch noch da ist, denkt sie spöttisch, verzieht aber gequält das Gesicht. Mist. Als ob es der Galle aber auch nicht reiche, was mit ihrem Körper alles geschehen ist in den letzten Monaten! Sie drückt, massiert die Gallengegend, aber der Schmerz flieht geradezu vor ihren Fingern in unzugängliche Regionen und wird stärker. Jetzt ist er im Rücken zugange.
Aber
reicht
es der Galle nicht eigentlich? Der Fisch hat ihr doch gereicht, sie hat darauf reagiert und ist dabei, eine Kolik zu entwickeln!
Was ist
reichen
für ein Wort?
Als ob es nicht reiche? Aber es reicht?
Sie bezweifelt, dass es sich um ein und dasselbe Verb handelt. Es verwuselt im Kopf den Verstand, der sich verwahren will gegen solche Angriffe. Das ist ja wie mit den doppelten Verneinungen, denkt Helene. Das ist ja furchtbar! Das bekommt sie doch tatsächlich nicht auseinander! Der Fisch hat der Galle gereicht, das schon, aber
was
reicht der Galle denn
nicht?
Ganz langsam. Noch einmal. Und noch mal. Es reicht der Galle nicht, was dem Körper zustieß im letzten Vierteljahr, sie muss ihren Senf auch noch dazugeben. Ja. Aber warum im Konjunktiv? Als ob es nicht reiche? Nein, das wird ihr zu viel, sie will das nicht überblicken, sie schiebt es weg, und gerade, als sie dabei ist, es in ein Schubfach zu packen, springt ein anderes daneben ein Stückchen auf.
Betreuungsverfahren.
Sie erstarrt.
Als sie noch im Feldberger Ring gewohnt hatten, war für eine alte Frau nebenan ein solches Verfahren in Gang gesetzt worden, auf ihren eigenen Wunsch hin. Sie vergaß so viel, die Demenz saß ihr im Nacken. So schöne lichte Momente hatte sie gehabt, dass Helene sich gern mit ihr in der Küche getroffen hatte zum Nachmittagskaffee. Das weit Vergangene saß fest, während sie oft nicht mehr wusste, hinter welcher ihrer drei Türen sich die Toilette befand, wo sie die Kaffeesahne hingestellt oder dass sie keine Strümpfe angezogen hatte, obwohl es nicht warm war. In einem der lichten Momente hatte sie zu Helene davon gesprochen, sich
entmündigen
lassen zu wollen, damit sie keinen Unsinn anstellte, wenn das Licht sie verließ, und sie hatte Helene gebeten, ihr dabei zu helfen, die nötigen Schritte einzuleiten. Seit Anfang der Neunziger gab es aber Entmündigungsverfahren in der Bundesrepublik nicht mehr, sie wurden durch die Betreuungsanordnung ersetzt, die in einem gerichtlichen Verfahren getroffen wurde. Weil Frau Schwörer auf eigenen Wunsch handelte, war ein einfaches ärztliches Zeugnis ihres Hausarztes ausreichend gewesen. Hätte aber ein anderer die Betreuungsnotwendigkeit überprüfen lassen wollen, wäre sie ausführlich begutachtet worden. Helenes Starre löst sich ein wenig, sie glaubt zu wissen, dass sie nach einem gutachterlichen Prozess nicht mit einer Betreuungspflegschaft,die für sie, wenn sie ehrlich ist, ja eigentlich doch nichts anderes ist als eine
Entmündigung,
zu rechnen hätte. Aber unsicher ist sie doch geworden. Sie zittert, aber es ist wohl der Schmerz. Also klingelt sie nach der Schwester, muss sich jetzt doch irgendetwas verabreichen lassen gegen die Kolik, ehe sie plattgewalzt wird.
Gallenkolik? Das könnte ja nun wohl alles Mögliche sein, meint die Schwester. Aber Helene kennt doch diese Attacken! Sie weiß doch, wie sie sich anfühlen! Sofort wird sie mutlos, vielleicht ist sie ja längst
entmündigt
, ohne es mitbekommen zu haben. Das Verhalten der Schwesternschaft lässt jedenfalls zuweilen darauf schließen. Nein, sie will darauf bestehen, ein Zäpfchen gegen die Kolik zu bekommen, aber die Schwester sagt nur, dass es ja wohl ziemlich gewagt sei, verordnete Medikamente nicht einzunehmen, aber andere einfordern zu wollen. Sie wären doch hier nicht im Selbstbedienungsladen! Ohne dass ein Arzt draufschaut, liefe hier gar nix! Schon klackt die Tür, ist sie fort.
Helene liegt längst in Schmerztrance, als endlich ein Arzt erscheint, sie untersuchen will, aber sie bekommt gar nicht genau mit, was er sagt, was er fragt. Wenigstens ist das keiner von denen, die ihr heute Nachmittag einen Einlauf gemacht haben wegen des Antiepileptikums, vielleicht kommt er von draußen, hat nur Notdienst hier? Eine Spritze verabreicht er schließlich, und Helene spürt wenige Minuten danach die befreiende Erleichterung. Jetzt wäre sie bereit und in der Lage, auf seine Fragen zu antworten, aber natürlich ist er längst fort.
Sie dreht sich auf die Seite. Fühlt sich geschwächt.
Die haben doch tatsächlich mit Matthes wegen eines möglichen Betreuungsverfahrens gesprochen! Sie fasst es nicht. Sie ist doch Herrin aller ihrer Sinne! Sie sieht, hört, schmeckt, fühlt, riecht! Sie kämpft doch! Sich aus dem Komakokon herauszuschälen, hat sie die meiste Kraft gekostet, meint sie, und alles, was noch kommt, wird zu bewältigen sein. Muss zu bewältigen sein! Wenn einer die Hand ausstrecken will, ihr zu helfen, reagiert sie überempfindlich, versucht alles allein, gerät in Rage, wenn sie sich eingestehen muss, dies und das jetzt nicht und vielleicht nie mehr tun zu können. Klavierspielen zum Beispiel. Hat sie deshalb die Musik ziemlich abgeschaltet? Bis auf Bengts Oboe nichts an sich herangelassen, was die Kinder und Matthes ihr mitgebracht hatten, CDs und einen mobilen Player, Kassetten und einen uralten Walkman. Klaviermusik? Früher war sie ihre liebste Begleitung gewesen, beim Autofahren, beim Wäscheaufhängen, vor dem Schreiben, wenn sie auf Rausch aus gewesen war dazu. Jetzt hat sie lieber Stille im Kopf. Eine Wohltat. Ein Trost, aber doch merkwürdig, so ohne Tröstung. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Trost und Tröstung? Ein Trost, überlegt sie, ist für sie etwas Momentanes, während eine Tröstung anhält. Ja, so ungefähr. Immer wieder muss sie sich der Worte vergewissern, aber ob das, was sie dazu denkt, richtig ist, weiß sie nicht. Nicht genau. Nicht genau genug, denkt sie. Auch das macht sie fuchsteufelswild. Außerdem beobachtet sie die Leute viel genauer als früher, findet sie, und erliegt oft genug der paranoid anmutenden Idee, das, was sie zeigen, sagen, meinen, bezöge sich auf sie. Auf ihren Zustand. Auf ihr Unvermögen. Geradezu