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neurotisch

findet sie das. Eine Neurosendefinition fällt ihr zwar nicht ein, aber das Wort lässt sich auch ohne Definition gebrauchen. Sie muss wieder Sicherheit finden im Gebrauch der Worte. Sich nicht abhalten lassen, eines zu gebrauchen, wenn ihr im Moment des Aussprechens plötzlich unklar zu sein scheint, was es meint. Wieder ohne überlegen zu müssen sprechen zu können! Das kann sie nicht, zugegeben, aber ihre Wahrnehmung der Dinge steht doch wohl nicht zur Diskussion. Sie kann sich Meinungen bilden, wenn sie dafür auch viel länger braucht als früher. Wie sagte Matthes?

Du bist doch nur endlich normal geworden …

Wenn das stimmte, so brauchte sie, um sich eine Meinung zu bilden, vielleicht aber auch nicht viel mehr Zeit als andere Leute. Aber stimmte es wirklich? Ihr sind die Maßstäbe flöten gegangen, sie kann einfach nicht einschätzen, ob sie zu langsam oder schnell genug denkt. Früher wusste sie immer, dass sie zu langsam lief. Ihr war es schnell genug gewesen, auch wenn es nie für eine bessere Zensur als eine Fünf gereicht hatte, denn sie wusste ebenso gut, dass sie den anderen im Denken meist ein Stückchen voraus war.

Wer schnell rennt, muss nicht schnell denken

(und umgekehrt)

Mit diesem Spruch, der, wie sie auf einmal merkt, eigentlich erstaunlich wenig sagte, eigentlich nichts! hatte sie sich stets über die Lauffünfen hinweggetröstet. Jetzt kann sie nicht einmal mehr eine Fünf errennen, und wie es mit dem Denken steht, ist ungewiss. Das nagt, das macht, dass ihr das Betreuungsverfahren wieder ein- und alles andere hinten runterfällt. Matthes hatte sich dagegen verwahrt, hatte gesagt, dass

seine Frau

geschäftsfähig, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und keinesfalls ein Fall für ein Betreuungsverfahren wäre. So hatte er es jedenfalls dargestellt, und Helene weiß, sie sieht es seinen Augen, den Falten im Gesicht, der Ohrenstellung an, dass er wahr spricht. (Den

Vollbesitz

beanspruchte sie allerdings nicht, aber das braucht ja keiner zu wissen.) Wütend war er geworden, dass man derart hinterfotzig, wie er es nannte, wegen nicht eingenommener Medikamente gegen sie Front machen konnte. Keinem Menschen hier fiele ein, einen anderen in Helenes Zustand zu (ja, er hatte auch dieses Wort gebraucht) entmündigen, das sei doch wohl die Höhe, er merkte doch, wie sehr sie anwesend wäre! Helene war erst rot, dann blass geworden und hatte das fetteste Grinsen aufgesetzt, dessen sie fähig war. Das war gestern Nachmittag gewesen. Heute hat Matthes einen Sitzungstermin und kann nicht kommen.

Das ist selten.

Das ist schön, denkt Helene.

Das ist, als ob einer eine Blume nicht sehen kann, die hinter der Hecke blüht, aber genau weiß, dass sie dort steht und ihre Blütenblätter zur Sonne streckt. Dabei weiß sie jetzt gar nicht, wer die Blume und wer der Typ jenseits der Hecke ist, aber das ist ihr auch egal. Der Spruch scheint nicht ganz so nichtssagend zu sein wie der vom schnellen Rennen und vom langsamen Denken (und umgekehrt), und ein bisschen Stolz weitet ihr die Rippen, dass ihr so etwas eingefallen ist.

Die Stille kreuzt sich mit der Dunkelheit, und heraus kommt ein Nachtfalter, der in einer Gardinenfalte sitzt und Helene verwundert, denn eigentlich ist doch jetzt keine Schmetterlingszeit. Er fliegt nicht, sondern verharrt still auf seinem Fleck. Sofort hat sie Lust, über Nachtfalter zu lesen: ihre Systematik, ihre Fortpflanzungszeiträume, ihre Nahrung. Dann wüsste sie mehr über das Tierchen, das ihr jetzt so seltsam aus dem Sommer in den Herbst verpflanzt vorkommt, ein verspäteter Gruß? Aus dem in diesem Jahr an ihr vorbeigegangenen Sommer? Vielleicht schickt ihn Maljutka, muss sie denken, von der sie ungefähr fünfmal am Tag glauben möchte, dass sie ihr vom Himmel aus zusieht. Als ihre Urgroßmutter noch lebte, hatte sie der kleinen Helene stets vom Himmelsaufenthalt nach dem Tode erzählt, ganz selbstverständlich war ihr das geworden mit den Jahren, sodass sie, als die alte Frau starb, täglich bemüht gewesen war, beim Blick in den Himmel wenigstens ein Stück Rockzipfel von ihr zu erwischen. Davon ist hängen geblieben, dass sie, wenn sie an die noch wenigen Toten in ihrem Bekannten- und Verwandtenkreis denkt, oft in den Himmel schaut. Im Sommer verblitzt sie sich regelmäßig die Augen. Jetzt, in der Herbstnacht, ist es sternenklar, und die Sterne stören auf eigentümliche Weise. Keine Himmelsmilch, in der die Vorstellung die Verflossenen unsichtbar Anteil nehmen lässt am irdischen Fortgang.

Sie seufzt.

Maljutka Malysch …

Sie zupft die Diskette aus der Lade. Nach dem letzten Treffen im April hatte sich Maljutka noch genau drei Mal gemeldet, Helene hatte diese drei Mails wiederum auf einer Diskette mit obligatem Rotpunkt gespeichert und im Schrank verwahrt, und jetzt erinnert sie sich, wie sie an manchen Tagen gar nicht anders gekonnt hatte, als darauf Antworten zu entwerfen. Nie hatte sie die abgeschickt, sondern vor dem Zubettgehen gelöscht, sie waren verschwunden im virtuellen Off. Wo sie hingehörten?

Das wäre zu viel.

Das wäre zu wenig.

Das wäre zum Beispiel ein wenig zu viel angesichts der erregten Mühen, die sie darauf verwandt hatte, jetzt kommt eine Ahnung der Zustände in ihr auf, in denen sie an die imaginär bleibende Maljutka geschrieben hatte, und weitet sich zu Bildern: Immer noch war ihr Stimmungspegel schwankend, unausgeglichen gewesen. Es war, als zerbräche die Mattheskiste einfach irgendwo im Abseitigen, ihr gar nicht zugänglich. Abend für Abend schlief sie nun allein im viel zu großen Bett, und Abend für Abend wünschte ihr Matthes mit ruhiger Stimme eine gute Nacht, ehe er sich in sein Dachzimmer begab. Sie gifteten sich nicht an, sie zerstritten sich nicht, es gab zahllose unausgesprochene Übereinkünfte, die Kinder betreffend. Ihr Matthesbild verschwamm zusehends, sie glaubte nur noch wenig von ihm zu wissen, aber auch er wusste von ihr ja schon lange nichts mehr, wusste nichts vom Maljutkaeifer und dessen Vorstößen und Rückzügen … Es war, als hätte die in langen Jahren unmerklich entstandene Gewissheit, einander innezuhaben und besetzt zu halten, sich nun ebenso unmerklich in ihr Gegenteil verkehrt: Sie hatten sich sozusagen jeder aus dem anderen zurückgezogen, einander

entkolonialisiert

Störte dabei die Installation eines nach wie vor gemeinsamen Lebens? Sie hatten bis dahin nicht ernsthaft daran gedacht, sie zu demontieren. Nicht Faulheit, nicht Feigheit hinderten sie daran, den Zustand zu verändern oder zu beenden. Vielmehr sahen sie sich irgendwie außerstande, die Leine, an der sie einander führten, auch nur für einen Moment loszulassen, weil sie die Orientierungslosigkeit fürchteten, die sich (sie dachten: zweifellos!) dann einstellen würde. Dabei hatte sich die Leine zwar ausgeleiert, war nicht mehr knapp armlang wie in ihren ersten Jahren (sie reichte jetzt im Normalzustand vom Doppelbett über die Treppe in Matthes’ Dachzimmer und verlängerte sich während seiner oder ihrer Abwesenheiten vom Hause), aber sie spürten sie ständig, sie war ihnen heilig, die Fessel. Gab Sicherheit, Zutrauen, war wechselseitige Bürgschaft, ohne die sich ihre Existenz einfach nicht mehr definieren wollte. Nicht einmal Maljutkas Festungssturm hatte sie lösen können.