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Wo ist sie eigentlich jetzt, die Leine?

Helene hält inne.

Nein, sie kann sie im Moment nicht spüren.

Sollte Matthes sie gekappt haben?

Hatte Maljutka sie abgerissen, ehe sie starb?

Vielleicht war sie einfach abgerutscht vom rechten Handgelenk! So schlaff, wie die Hand herabhing, musste Helene das gar nicht bemerkt haben. Eines schönen Tages hatte die nutzlose Patsche ihre Nutzlosigkeit womöglich nicht mehr ertragen können und die Schlinge abgleiten lassen. Ja, beschließt Helene, so soll es gewesen sein.

Mal sehen, wie weit sie mit dieser Annahme kommt.

Der Oktober läuft auf sein Ende zu, gestern gab es sogar einen ersten Schneeschauer, der aber folgenlos blieb, denn die Erde war viel zu warm, als dass er hätte liegen bleiben können.

Helene hat sich mit Matthes an der Bushaltestelle verabredet, sie wollen das Stück zum Markt schaffen und beim Chinesen das Mittagessen ersetzen. Sie muss womöglich eine Mütze herauskramen, denn als sie das Fenster öffnet, ist die Luft merklich kühler als gestern. Lange steht sie mit dem Rollator vorm Spiegel und sieht sich an, kommt sich wieder einmal sehr fremd vor mit dem Linksgrau im Haar, mit den dicken Augenlidern und geschwollenen Fingern, die sie, zu dumm! nicht in den Jackentaschen verschwinden lassen kann, denn sie muss sich ja festhalten, an ihrer

Lauflernhilfe

, wie sie es nennt. Letzte Woche hatten sie begonnen, ihr Lymphdränagen zu verordnen. Für zwei, drei Stunden tritt Besserung ein danach, sind die Finger nicht gar so wurstig. Auch Kälte scheint zu helfen, hat sie den Eindruck: Immer, wenn sie längere Zeit draußen gewesen war, gingen die Schwellungen ein wenig zurück. Sie massiert in Gedanken selbst ihre rechte Hand, ihren Silberring hat sie seit der OP nicht mehr getragen, er ist in ihrem Portemonnaie gelandet, in einem kleinen Tütchen. Jetzt aber schnelclass="underline" Mütze auf, Tuch um den Hals. Sie hat ja noch gar keine Schuhe an! Ärgerlich nimmt sie die Mütze wieder ab und löst das Tuch, denn das Schuhanziehen versetzt ihr stets schwere Schweißausbrüche.

Endlich fertig.

Den Fahrstuhl nimmt sie, trifft wider Erwarten Peter Preißler, der aber stoisch an ihr vorbeisieht, und verlässt die Klinik. Matthes hat sie von dem ehemaligen Klassenkameraden noch immer nichts erzählt. Hatte sie keine Gelegenheit gespürt, ihn von sich ablenken zu wollen? Sie denkt an dieser Stelle nicht weiter.

Das Gelände muss sie auf einem ausgewiesenen Fußweg verlassen, der einen unüberschaubaren Parkplatz quert. Sie probiert, ob sie Automarken noch ausmachen kann. Da ein Toyota, ein Renault, ein Peugeot. Zwei Wartburgs. Ihr erstes Auto fällt ihr wieder ein, sie hatten es kurz nach der Wende in nahezu nagelneuem Zustand bei einem gut situierten Herrn in Marzahn erworben, der sich auf seine alten Tage ein

Westauto

leisten wollte. Der Autohändler hatte ihm aber nur

700

Glocken für die Mühle geboten, sodass er es vorgezogen hatte, es privat zu veräußern. Obwohl das Auto sehr gut in Schuss und erst ein knappes halbes Jahr alt gewesen war, hatte es bei Fahrten nach Thüringen in den Bergen von Magdala jedes Mal schlapp gemacht.

Das liegt nicht in der Natur der Sache, aber des Wagens!

, hatte der Automechaniker zwei Häuser weiter damals achselzuckend gemeint, er betrieb zwar eine Wartburg-Werkstatt, aber auch er konnte nichts tun dagegen, dass das Kühlwasser kochte, der Motor heiß lief. Wenn sie ihm eine Pause gegönnt hatten auf dem Parkplatz, den sie immer mit knapper Not noch erreichten, war es dann meist bis in den Thüringer Wald gut gegangen. Sie lächelt, als sie daran denkt.

Plötzlich quietschen Reifen, ein Auto hält im Zentimeterabstand seitlich von ihrem Rollator — sie hat geträumt, weder daran gedacht noch rechtzeitig gemerkt, dass der Fußweg zu Ende und sie an der öffentlichen Straße angelangt war, auf die sie sich ohne umzuschauen gewagt hat. Das Herz schlägt nicht schneller. Dann kann es so schlimm nicht gewesen sein, sagt ein ihrem Verstand vorgeschalteter Stimmengenerator, sie hört es ganz deutlich, während der Autofahrer wild gestikuliert, die Scheibe herunterkurbelt und sie anherrscht. Sie aber geht einfach lächelnd weiter, soll der Typ sie ruhig für minderbemittelt halten, dann gibt er schneller auf, denkt sie. In der Tat kurbelt er kopfschüttelnd das Fenster wieder hoch, Helene sieht, wie er gegenüber seiner Beifahrerin die Hand vor der Stirn schüttelt. Na, geht doch! Ihr wird ganz froh ums Herz, früher hätte sie vor Kopflosigkeit in einer derartigen Situation gar nicht gewusst, wohin sie sich zuerst hätte wenden sollen, hätte sich wortreich entschuldigt, dem Fahrer als Entschädigung für den zugefügten Schrecken womöglich einen Kaffee spendieren wollen, ihm dann aber einen kleineren Geldschein gereicht, weil er natürlich keinen Kaffee der Welt mit ihr trinken gehen würde, und alles in allem hätte sie ganz sicher dafür gesorgt, dass er sich als überlegener Sieger aus der Situation verabschieden konnte. Nein, vorher wäre sie nicht zufrieden gewesen. Woher dieser so offensichtliche Gesinnungs- und Verhaltenswandel? Sie ist jedenfalls sehr zufrieden mit sich.

An der Haltestelle steht ein Teeniepärchen, das Mädchen ist höchstens dreizehn, der Junge vielleicht ein oder zwei Jahre älter, hält sich fest umfangen und knutscht, was das Zeug hält. Zwei dünne, ältere Frauen in den berühmten altrosa Jacken reden über eine Busfahrt nach Stettin, die sie sich für die kommenden Wochen vornehmen wollen, und Helene setzt sich neben sie auf die Bank im Büdchen. Eine schaut sie mitleidig an, die andere ist bemüht, wegzusehen. Schade. Dass sie noch immer ein seltsamer Anblick für andere ist, vergisst Helene wieder und wieder. Dabei trägt sie die Schädelnarbe unter der Mütze verborgen, es kann also so schlimm gar nicht sein, aber wahrscheinlich sind die beiden alten Dünnen noch leichtfüßig zugange, und es fehlt ihnen die Vorstellung, eben das nicht zu sein. Jetzt bemerkt sie aber doch den Speichel, der sich vor ihrem Mund abgesetzt hat, und kann die Alten besser verstehen.

Seit Matthes abgelehnt hat, auch nur einen Gedanken an ein Betreuungsverfahren zu verschwenden, sind nun schon acht Tage vergangen. Die Stationsärztin hat sich an das Epilepsiezentrum Berlin-Brandenburg gewandt, hat einem Herrn Professor den Fall geschildert. Er hatte zwar das Ausschleichen des Antiepileptikums zugunsten irgendwelcher homöopathischer Simsalabimkügelchen nicht gutheißen können, aber wohl zur Mäßigung geraten. Man hat ihr einen Konsens vorgeschlagen: Die Klinik erkennt an, dass Helene im Moment keine Medikamente zur Vorbeugung weiterer,

sehr wahrscheinlicher

Anfälle einnimmt, und sie sagt im Gegenzug zu, bei erneutem Auftreten für schnelle medikamentöse Behandlung Sorge zu tragen. Sie ist sich so seltsam sicher, nie wieder von solch einer Attacke heimgesucht zu werden, dass sie darauf sofort einging. Gestern hat sie nun auch das Papier unterschrieben, das ihr Autofahrten, Bergsteigen und Schwimmen ohne Begleitung verbietet,

bis auf Weiteres