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Das fiel ihr nicht schwer, denn Autofahren kann sie einhändig sowieso nicht, einen Berg hat sie noch nie bestiegen, und die einzige Schwimmhalle in der Nähe von Karlshorst war im Frühsommer geschlossen und nicht wieder geöffnet worden, wie Mareile erzählt hat. Sie muss bis nach Mitte zum Schwimmen fahren. Helene sieht sie im Badeanzug. Vor einem Jahr wölbten sich drei, vier Speckwülstchen über den Bauch, jetzt glänzt sie mit schlanker Taille. Aber die Beine sind dennoch Stampferchen, die Waden gehen umstandslos und ohne merkliche Verschlankung an den Knöcheln in die Füße über. Eben ihre Beine. Was hatte Maljutka Malysch hingegen für schlanke Fesseln gehabt; wenn sie sich doch nur hätte entschließen können, kürzere Röcke zu tragen!

Aber was denkt sie denn da … Maljutka lebt nicht mehr, ihre Röcke sind

geräumt

worden wie all ihre anderen Sachen auch, die Söhne haben dafür gesorgt. Wahrscheinlich, ja, ganz sicher! hatten sie die Habe ihrer Vatermutter gründlich durchgesehen, ehe sie sie aus der Wohnung schafften. In der sie übrigens nie gewesen war, Maljutka hatte es durchgehalten, ein Geheimnis daraus zu machen. Wie immer, wenn sie an Viola Maljutka Malysch denkt, wischt sie die Tränen aus den Augenwinkeln. Es war so vieles ungesagt geblieben zwischen ihnen wie ausgesprochen wurde, muss sie denken. Es hielt sich die Waage, im Gleichgewicht. War es auch eine Sache des Gleichgewichts, Maljutka den Laufpass gegeben zu haben, indem sie selbst davongelaufen vor ihr, damals, in Charlottenburg?

Jemandem den Laufpass geben …

Heißt das, ihm das Loslaufen nahezulegen? Zu erlauben? Aber sie hatte doch Maljutka nie untersagt, loszuziehen! Hatte sie ihr nicht viele Male geschrieben, dass es ihre schönste Vorstellung wäre, Maljutka verbandelt zu sehen? Mit jemandem, der ihr näherzukommen in der Lage war als sie selbst?

Der Bus rollt an, Matthes steigt aus. Trägt eine karierte Schiebermütze, in der er sie immer an Sherlock Holmes erinnert. Er hat jedoch eine Art zu sehen, die kaum an Sherlock Holmes erinnert, während er ihr immer

das zweite Gesicht

nachsagte. Sie konnte Verwandtschaftsbeziehungen aus einer Art des Augenaufschlages aufspüren, hatte einen untrüglichen Blick für Ähnlichkeiten der Physiognomien, ein phänomenales Gesichts- und Namensgedächtnis, konnte blitzschnell schlussfolgern, sodass sie auf eine andere Weise und stets viel schneller als er orientiert war, wenn es darauf ankam.

Ob das immer noch gilt, weiß sie nicht.

Matthes nimmt sie fest in den Arm.

Sie ist fürchterlich gestürzt auf dem Weg zum Markt. Jetzt sitzen sie beim Chinesen, Matthes reibt ihr den Knöchel, der im steten Anschwellen ist. Umgeknickt ist sie, und zwar mit ungekannter Wucht, fiel sofort, schlug lang auf dem Schotterweg auf und blieb erst einmal heulend dort liegen. Der Schmerz war kaum zu ertragen. Dazwischen musste sie lachen, die Zähne zeigen und spöttisch von den kleinen Dingen, die so nebenbei passieren, palavern, damit Matthes das nicht allzu ernst nahm. Matthes nahm das aber sehr ernst, wie es seine Art war, bat in aufbrausendem Befehlston einen vorbeikommenden Passanten um Hilfe, seine Frau — mein Gott, sie ist ja wirklich

seine Frau!

— aufzurichten und auf die Sitzfläche des Rollators zu befördern. So hat er sie hierher geschoben, ins Warme, wo er ihr Schuh und Strumpf vom rechten Fuß gezogen und die Kellnerin um einen kühlen Umschlag gebeten hat. Ihr ist das alles eher unangenehm, aber sie weiß, dass es sinnlos ist, ihren Mann — mein Gott, er ist ja wirklich

ihr Mann!

— davon abhalten zu wollen, seine Notfallhilfefähigkeiten zu zeigen.

Wollen wir nicht endlich bestellen?

Sie hat Hunger. Freut sich auf Frühlingsrollen, die sie zur Probe auf die Küche gern vor dem Hauptgang nimmt. Als sie kommen, sind sie zwar heiß, aber sehr fettig und grob zusammengeschustert. Nun weiß sie, was sie zu erwarten hat. Matthes hat natürlich keine Frühlingsrollen auf seinem Teller. Er bestellt nämlich erst, wenn sie fertig ist damit, und dann meist nur eine Kleinigkeit, selbst wenn sie mehrere Gänge geordert hat. Sie nennt das Geiz, er nennt das

keinen Hunger haben

Sie glaubt zu wissen, dass er zur gleichen Zeit zu Hause unmäßig zulangen würde, er macht geschmäcklerische Lippenbewegungen und tut so, als reizte er im kleinsten Pröbchen seinen Appetit aus. Das ist für gewöhnlich der Zeitpunkt, zu dem sie es bereut, mit ihm überhaupt zum Essen gegangen zu sein. Er ist lang und dennoch ein Hänfling neben ihr. Unangenehm, sich der Beobachtung des Personals auszusetzen, das eine dicke Frau und einen dünnen Mann am Tisch sitzen sieht. Der dünne Mann nimmt kaum etwas zu sich, die dicke Frau haut rein. Dass es immer wieder genau so kommt, verstimmte sie sonst stets aufs Neue, dabei hätte sie doch nur den jeweils letzten Restaurantbesuch aktivieren müssen im Gedächtnis und hätte genau diese Abläufe kommen sehen! Heute aber nimmt es ihr nicht die Lust, sich den Bauch vollzuschlagen. Sie sieht ihn sein Sauer-Scharf-Süppchen schlürfen. Kein Gedanke an einen Vorwurf. Wieder so ein Gesinnungs- und Verhaltenswandel. Oder hat es damit zu tun, dass die Leine gekappt ist, an der sie einander in Schach hielten?

Sie isst länger als er, also hört sie ihm zu. Billy hat eine wichtige Klausur in Mathematik mit einer Zwei bestanden, Lissy einen Wasserschaden verursacht in ihrer Wohnung. Ist es schlimm, dass sie sich über die Zwei zwar freut, aber ebenso froh darüber ist, mit dem Wasserschaden hier draußen nichts zu tun haben zu können? Ein bisschen kommt sie ins Grübeln und hört nun nicht mehr zu, die Kapazität! denkt sie. Geht auf verschlungenen Wegen und sieht ihn tiefgründig an dabei. Hört seine Stimme wie aus der Ferne. Sie murmelt. Sie gurgelt.

Helene verschluckt sich.

Im Augenblick, da sie das Fleisch wieder hochwürgt, fällt es ihr ein:

Keine Sentimentalitten!

, hatte Matthes geschrien, außer sich, als sie sich, tatsächlich? getrennt hatten. Ein Film, hart geschnitten und von gellender Farbigkeit, wird da ausgestrahlt, während sie essen will. Schließlich bekommt sie keinen Bissen mehr herunter. Matthes zahlt. Matthes trottet, sie auf der Sitzfläche des Rollators vor sich herschiebend, mit ihr zum Optiker. Die Brille ist fertig, lange schon, der Film aber offenbar nicht zu Ende. Auch, als die ungewohnte

Sehhilfe

vor ihren Augen sitzt und sie eigentlich mit erneuertem Blick in die Welt schauen soll, sieht sie statt des Heidemühlener Kleinkarierten nur den Film. Matthes merkt, dass da etwas abläuft. Er unterlässt es zu fragen. Stattdessen befördert er sie zurück in die Klinik. Ihr Fuß hat inzwischen die Ausmaße eines Klumpens erreicht. Spätestens morgen würde seine Farbe sich zwischen rot und blau nicht mehr entscheiden können, und es würde ein Weile dauern, bis er sich grün, gelb und braun verfärben und schließlich wieder in Form und Farbe dem ähneln würde, was da heute Morgen in ihrem Schuh gesteckt hatte. Das stört sie nicht.

Sie sieht den Film.

Die neue Brille rückt die Dinge ein gutes Stück näher, sie werden wieder deutlich, sie wusste schon gar nichts mehr vom Sehen, denkt sie, als sie schließlich im Zimmer sitzt, Matthes im Rücken, im Abseits, im entlegenen Dunkel. Aus dem Fenster schaut sie in den Himmel, Wolken ziehen, und dass sie die feinen Abstufungen im Grau wieder sehen kann, die Verwirbelungen, das Strudeln im Wind, fasziniert sie. Lippen spürt sie plötzlich am Hals,

mach’s gut, meine Liebe

, ein Klappen der Tür. Sie hat nichts gesagt, sich nicht verabschiedet. Stattdessen geht sie seinen Worten nach. Hat er

groß

gesprochen oder

klein