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Ihre Schwestern sind da. Als die Tür aufgeht und sie ins Zimmer treten, ist sie so überrascht, dass sie vor Aufregung einpinkelt. Zum Glück müssen die beiden das nicht merken. Marika ist drei, Ellen sechs Jahre jünger als sie. Eine wohnt in Dresden, die andere in der alten Thüringer Heimat. Dass sie für nur einen Nachmittag nach Berlin fahren, um ihre große Schwester zu besuchen, rührt Helene.

Warum sehen sie hilflos aus? Sie freut sich doch so! Ach, jetzt sieht sie es: Die dicke, einbeinige Frau Bandner vom Bett gegenüber hat sich wieder mal die spärlichen Sachen vom Leibe gefetzt. Sie wird sondenernährt, ein Schlauch geht von außen direkt in den Magen. Wenn sie sich die Sachen vom Leibe fetzt, hat sie eingekackt. Ja, es stinkt. Man muss die Schwester rufen. Ellen und Marika werden aus dem Raum geschickt. Sie wollen Helene mitnehmen. Aber die ist nass, also versucht sie, Zeit zu schinden und der Schwester geheime Zeichen zu geben. Leider ist die Toilette ganz am Ende des langen Flures, sodass sie nicht unbemerkt hinkäme. Sie gibt es auf und zeigt ihren Schwestern die Bescherung. Nun sehen sie noch hilfloser aus, Ellen ist puterrot im Gesicht. Helene versucht zu sagen, dass sie hinauskommt, wenn sie trockengelegt wurde. Sie gehen erst einmal. Hoffentlich nur bis auf den Flur? Es dauert lange, bis sich die Schwester um sie kümmern kann. Sie wäscht sie schnell im Bett, das sie danach abzieht.

Neben Frau Bandner liegt eine alte Frau, die Zeichen der Austrocknung aufwies, als sie eingeliefert wurde. Immer sieht sie Schützen im großen Baum vor dem Fenster, die auf sie angelegt haben. Deshalb hält sie den Deckel des Nachtgeschirrs zitternd vor ihren Kopf und wagt sich nicht zu rühren. Bestimmt haben Ellen und Marika auch sie gesehen. Wenn die beiden nichts über ihre Verfassung wissen, sie aber mit zwei verrückten Alten im Zimmer ist, denken sie sich ihre Portion. Sie muss sie vom Gegenteil überzeugen. Nur wie?

Als sie frisch geputzt im Rollstuhl vor die Tür gefahren wird, sieht sie, dass Marika geweint hat. Sie übergeht es, aber es ist zu spät zum Sprechen. Morgens geht es besser. Sie lotst Marika und Ellen in die Cafeteria. Erschöpft trinkt Helene einen Tee, möchte dann aber, dass sie gehen.

Die Wochen vor dem Platzen des Aneurysmas sind ausgelöscht. Nichts mehr da. Manchmal taucht ein Bruchstück einer Erinnerung auf, aber ehe sie es zu fassen bekommt, ist es weg. Sie wundert sich auf einmal, warum die kleine Tochter noch nicht bei ihr war. Warum denkt sie so selten an Lottchen? Immerhin ist sie erst fünf. Wenn Helene die Augen schließt, sieht sie ein kleines, schlitzäugiges Gesicht mit spitzbübischem Grinsen. Liebt sie es? Aber ja! Jetzt zieht es vom Herzen aus. Sie muss Matthes unbedingt fragen, darf es nicht nicht nicht vergessen.

Sie sollte sich einen Erinnerungsfaden denken, an dem sie sich entlanghangelt. Es wird sicher mühsam werden, aber wie sonst sollte sie die vergangenen Wochen, vielleicht Monate, zurückbekommen? Matthes sagt, zwei Wochen habe sie im künstlichen Koma verbracht. Träumt man während dieser Zeit? Ihr ist, als habe sie geträumt, aber die Übergänge zum Erlebten sind wohl fließend. Zwei Wochen kann sie eher gleich herausschneiden aus dem Film, den sie zusammenpuzzeln will.

Liebt sie Matthes?

Es zieht nicht. Früher zog es. Das weiß sie.

Besuch.

Wo ist Lottchen?

Große Freude, dass sie daran gedacht hat, nach ihr zu fragen. Sie hat sie nicht vergessen. Ihr jüngstes Kind. Matthes erzählt, dass Lottchen bei ihren Eltern ist. Die Kleine wird hoffentlich schöne Zeiten dort haben … Ihr Vater wird mit Lottchen auf die Sommerrodelbahn am Inselsberg fahren oder ins Tabarzer Spaßbad. Sie freut sich für die Tochter, wenn sie sie auch vorläufig nicht zu sehen bekommt.

Bengt hat ein Urlaubssemester genommen, sagt Matthes, und Bill, der eigentlich im Frühjahr ausgezogen ist zu seiner Freundin, verbringt viel Zeit im Karlshorster Haus.

Richtig, sie haben ja ein Haus. Haben es

1998

gebaut, vor knapp vier Jahren. Schlagartig kommt die Zimmeraufteilung: die große Erlenküche mit Erker, das lange Wohnzimmer mit Kaminofen. Das Schlaf-, das Lottchenzimmer unten. Oben die Zimmer für Lissy und Mareile, das Arbeitszimmer ihres Mannes und — ihr Arbeitszimmer! Sie ist ja Schriftstellerin! Darauf war sie nun wirklich nicht vorbereitet. Ihr fallen Bücher ein, die sie geschrieben hat. Hat sie an einem neuen Buch gearbeitet? Kein Arbeitstitel taucht auf. Vielleicht hatte es ja noch keinen Titel.

Läpptopp!

, sagt sie.

Schon dabei,

sagt Matthes und holt ihn tatsächlich aus seinem Rucksack hervor. So ein Service aber auch.

Ja, jetzt zieht es ein bisschen.

Was ist» früher«?

Sie kriegt ihren dreiundvierzigsten Geburtstag noch zusammen. Wie viele Leute ihr einfallen … Sie alle waren gekommen, sogar Carla von der Mosel. Einen Mann hatte sie mitgebracht, der ihr ausnehmend gut gefiel. Einen Steinmetz aus Rostock. Sie erinnert sich: Er berührte Carla wie beiläufig, das hatte Helene wohlige Schauer beschert. Warum will ihr nicht einfallen, ob Matthes sie an diesem Geburtstag berührte?

Ein Quiz hat er veranstaltet.

Wer kennt am besten die Persönlichkeit von Helene Wesendahl?

Da, eine Frage kommt wieder:

Was fasst sie zuletzt am Abend und zuerst am Morgen an?

Richtige Antwort: den Wecker. Und da, noch eine!

Welchem Politiker würde Helene gern mal die Pickel ausdrücken?

Immer, wenn sie Gerhard Schröder im Fernsehen gesehen hatte, hatte es ihr in den Fingern gejuckt. Überraschenderweise hatte der Steinmetz, der sie an jenem Tage zum ersten Mal sah, alle Fragen richtig beantwortet und das Quiz gewonnen. Der vierundvierzigste Geburtstag vor einem halben Jahr liegt hingegen ziemlich im Dunkeln. Vielleicht hatte sie ihn nicht feiern wollen.

Sie möchte Agatha Christie lesen. Nicht Martha Grimes, deren erste Inspektor-Jury-Romane ihr ausnehmend gut gefallen hatten. Sie fürchtet sich davor, Martha Grimes womöglich nicht zu verstehen. Dann schon lieber Agatha Christie. Die hat sie schon als sehr junges Mädchen gelesen, vielleicht lässt sich ja ein Wiedererkennungseffekt ausmachen.

Was sie will, lässt sich per Laptop natürlich viel besser sagen. Eine lange Liste hat sie zusammengestellt mit Dingen, die sie tun möchte. Zum Beispiel mit links schreiben. Dazu brauche sie einen Stift und Papier.

Matthes sagt, Helene solle Gedichte versuchen. Stift und Papier hat er dabei.

Gedichte? Wie geht das? Sie kann es sich einfach nicht vorstellen.

Zwischen einem möglichen Gedicht und Helene Wesendahl gähnt ein Loch. Ein schwarzes.