? Ist sie seine
Liebe
oder seine
liebe
Helene? Macht das einen Unterschied? Wenn ja, welchen? Seine
Liebe
… Im Film vorhin sah sie ihn klein und zerknirscht, es war Anfang Juni, sie hatte Lottchen in den Kindergarten gebracht, er einen Behördentag genommen. In den letzten Wochen war ihr zwischen den Fingern verdorrt, was sie gewollt hatte. Deshalb hatte sie ihn um Urlaub gebeten, um ein, zwei Tage nur, die sie hinausfahren könnten ins Blaue, das rings um die Stadt in tiefem, frischem Grün auf sie wartete und das sie aufgeladen hatte mit Wünschen, Matthes möge mit ihr eine lichte Stelle im Wald suchen (sie vor allem auch finden!), auf der er sie wie früher auszöge und sie sich liebten, die Sonne würde den Schweiß auf ihrer Haut glitzern lassen, sie würde mit dem Finger hindurchgehen und seinen Namen schreiben. Matthes hatte zwar Urlaub genommen, aber ins grüne Blaue zog ihn nichts, er war aus seinem Zimmer in die Küche hinuntergekommen und hatte sich an den Tisch gesetzt. Seine Hände hatten gefaltet vor ihm auf dem Tisch gelegen, er war gespannt wie eine Geigensaite gewesen, bei der kleinsten Berührung, sie spürte es, hätte er Töne von sich gegeben, von denen sie im Voraus nicht hätte sagen können, ob sie ihm und ihr angenehm gewesen wären. Also berührte sie ihn nicht, wenn auch ihre Hände beständig gezuckt hatten, die rechte, die linke, sich auf seine Unterarme, das verknotete Handpaar zu legen. Also hatte sie von Beliebigem gesprochen (sie weiß es nicht mehr) und ihn beobachtet, wie das Beliebige ihn wütend zu machen begann und seine Augen ins Flackern brachte, dass das Handpaar schließlich ganz blutleer gepresst dagelegen hatte und die Zähne so fest miteinander verbunden schienen. Also hatte sie überlegt, ob sie überhaupt wieder voneinander zu lösen sein würden. Also so, in etwa. Aber ihr Sinn hatte gleichzeitig sehr wach danebengestanden und sie beide beobachtet, ohne dass er dem Beliebigen aus ihrem Mund hätte ins Wort fallen können, und er hatte natürlich wahrgenommen, wie schwer es ihr gefallen war, ohne ein Berühren auskommen zu müssen, wie schwer es ihm gefallen war, sich dem Beliebigen aus ihrem Mund auszusetzen. Ihm war womöglich danach gewesen,
Butter bei die Fisch
zu machen und ihr einfach gleich hier in der Küche die Klamotten abzureißen und sie einfixdrei zu ficken, dass ihnen schwarz würde vor Augen und sie dem Grün im Blau nicht länger ausgesetzt hätten sein müssen. (Ja, so denkt Helene jetzt.) Aber ihre Haut war alt geworden und schämte sich, so schlaff (trotz des Specks) von den Bauchseiten herabzuhängen, so faltig verkniffen von Brust bis Scham über Kinder zu reden, die heute hinreißend waren wie früher sie selbst. Sein Rücken, gekrümmt vom Alter, konnte sich einfach nicht vorstellen, sie würde ihn schön finden wie früher und ihn kneten, während der Schwanz in ihr Wache schob, aufmerksam, lauschend. Und so hatten sie beide, da sie mehr in sich selbst hockten, einfach aneinander vorbei die Minuten verbracht, auf ihre jeweiligen Ziele gestarrt und gar nicht gemerkt, dass sie ein und denselben Punkt fixiert hatten: ihr Einssein zu zweit, ohne Leine und Besetzung des anderen. Was gerade geschah, hätten sie wahrscheinlich beide nicht sagen können, aber dass es etwas war, was ihr Leben entscheiden sollte, hatten sie schon gefühlt. Das Jahr, in die Minute des Schiedsspruchs geschrumpft, hatte zusammengekrümmt zwischen ihnen auf dem Tisch gelegen, bis Matthes es hochgehoben und fallen gelassen hatte mit einem großen
Ach
, während sie es aufgefangen und versucht hatte, ihm wieder Luft zu geben, dass es atmen konnte.
Keine Sentimentalitten!
hatte er unvermittelt geschrien, als er schon wieder auf der Treppe nach oben gestanden und sich noch einmal umgedreht hatte, und das war für sie das
Aus
gewesen nach dem
Ach
, das Jahr wurde nicht wieder, und wenn sie es in den wenigen Wochen, die ihr bis zum Platzen des Aneurysmas noch bleiben sollten, angesehen hatte, so war sie traurig geworden, denn es hatte wie tot am Haken des jeweiligen Tages gehangen, und die Tage starben, indem sie eingingen ins tote Jahr, das natürlich nicht lebendiger wurde dadurch.
Am Tage darauf waren sie dennoch zu Pietros Geburtstag gefahren.
Seit gestern hat sie wieder das Lied im Ohr, in Thüringer Mundart, in dem von den
Sentimentalitten
die Rede ist. Ein spöttisches. Einem Professor wird ein melodisch gackerndes Huhn vorgeführt, und er stürzt sich drauf mit Eifer und Geifer. Bietet dem Besitzer Geld, einen Trabi — das Lied stammt wohl aus den
80
ern — und was des Bürgers Begehrlichkeit damals wohl noch so geweckt haben mochte. Der aber will davon nichts wissen und dem
Viech
,
keine Sentimentalitten!
, den Kopf abhacken, damit es am Sonntag
nei in sein Toppe
kommen kann. Früher hatte Matthes die Wendung im Scherz gebraucht, wenn ihm etwas nahe kam, was nicht in seine Nähe gehörte. Billy zum Beispiel. Oder die von einem berückenden Foto ausgehende Rührung, die er nicht sofort als
Kitsch
abtun wollte, sondern allenfalls, wenn ihm das jemand vorgemacht hatte. Überhaupt ließ er seine Haltungen gerne im Halbdunkel, erahnbar zwar, aber mehrdeutig auszulegen, sodass man ins Grübeln geriet. Sagte jemand laut und unüberhörbar, was er meinte, so schien jedes Mal ein Damm zu brechen in Matthes. Alsbald arbeitete er sich an der geäußerten Haltung gewaltig ab, als brauche er sie, um die eigene überhaupt überprüfen zu können. Manchmal demontierte er sein Gegenüber geradezu wegen der geäußerten Sätze, Helene wusste jedoch mit den Jahren, dass allzu große Abstoßung bedeutete, er gelänge früher oder später zu genau der gleichen Haltung wie der eben abqualifizierten. In Bezug auf sich selbst aber erwartete sie — nichts. Matthes hatte nicht mehr
mit
ihr gesprochen, hielt es vielleicht für überflüssig angesichts der Übereinstimmung, die sie seit vielen Jahren zelebriert hatten. Wenn man einander besetzt hält, wähnt man sich im anderen zu Hause und muss darüber, wo Tür und Fenster sind, über die Farbe des Teppichs und die Bettwäsche kein Wort mehr verlieren. Dass man aber glaubt, auch mit dem Blick des anderen aus dem Fenster zu schauen, mit seiner Hand die Tür zu öffnen, unter den Teppich zu kehren, was man — wie der andere — nicht vor Augen haben möchte (von Bettwäsche ganz zu schweigen), ist trügerisch: Anfangs wundert man sich vielleicht, dass der andere die Tür zuhält, die man selbst zu öffnen im Begriff steht, oder man sieht sich getäuscht, weil der andere auf etwas herumhackt, was man doch gerade erst unter den Teppich verbracht hat. Später dann lässt man um der Gewohnheiten willen davon ab, den anderen überhaupt zu bemerken, während er an der Leine turnt und verlernt, sich selbst als Zentrum seines Bewegungskreises zu sehen. Dessen Radius bestimmt sowieso der andere. In dieser geheuchelten Sicherheit hatten sie sich beide befunden, und es war Maljutka gewesen, die ihr den Garaus gemacht hatte mit ihrem für Helene gefährlichen, spröden Charme. Ihrer betörenden Unschärfe, die eine nicht weniger betörende Klarheit im Schlepptau hatte. Sie hatte sich nicht begierig in eine Beziehung gestürzt, war aber doch überrollt worden, auch von Maljutkas Beklommenheit, ihrem
Dilemma
, aus dem sie ihr aufhelfen wollte, so oder so. Ihr Helfersyndrom? Für Liebe kann es sicher nichts, denkt Helene, und geliebt hat sie Maljutka. Nicht als Ersatz für Matthes, aber neben ihm, unabhängig von ihm, bedingungslos. Matthes hat das merken müssen, auch wenn er es vielleicht nicht wusste. Hätte er es gewusst, hätte er klar reagieren können.