Keine Sentimentalitten
war zum Schrei der Not geworden in einer Situation, die bedrohlich gewesen war für Matthes. Bedrohlich unklar. Und das Beunruhigendste daran, meint Helene heute, sei gewesen, dass sie geglaubt hatte, sich entschieden zu haben.
Vorerst.
Der Rollstuhl ist wieder da. Die Schwester hat ihn heraufgebracht aus dem Magazin. Helene bekommt eine Stütze ums rechte Bein, die sie vor neuerlichem Umknicken schützen soll. Eine lederne Sohle, von der aus am Knöchel links und rechts Plastikschienen ausgehen; in Wadenhöhe enden sie dann in einem weißen Gurt, der ums Bein zu schnallen ist. Warum soll sie die tragen, wenn sie jetzt wieder im Rollstuhl sitzt?
Wenn Se ma puschen jehn
, sagt die Schwester und ist verschwunden.
Pissen, pinkeln, Wasser lassen, mal müssen. Manche sagen eben puschen dazu … Helene muss grinsen. Natürlich passt der Fuß in keinen Schuh. Vorerst auch ohne Gestell nicht, und später, wenn er wieder abgeschwollen sein sollte, würde sie einen alten Schuh zerschneiden müssen, um etwas an die Füße zu bekommen. Sie wird Matthes bitten, ihr die Stoffturnschuhe mitzubringen, die sie letztes Jahr gekauft hatte, um regelmäßig joggen zu gehen. (Matthes hatte damals gelacht, denn er wusste im Gegensatz zu ihr, dass heutzutage kein Mensch mit einfachen Stoffturnschuhen joggte. Schon gar nicht, wenn man etwas schwerer war als leicht, dann nämlich drückte das Gewicht so unvorteilhaft auf die dünne Sohle, dass Schmerzen die Folge waren.)
Da sie nie mehr joggen gehen würde, kommt es auf die Schuhe wirklich nicht an, denkt sie. Die Zufriedenheit mit dieser Feststellung bemerkt sie einen Moment nach deren Entstehung und wundert sich, dass der Schmerz ausbleibt. Sie hat sich schnell daran gewöhnt, dies und das nicht mehr tun zu können. So umstandslos, dass sie sogar schon daran denkt, wie mit nutzlos gewordenen Dingen zu verfahren ist.
Sie tut sich Genüge, anders kann sie es nicht nennen.
Matthes hat sie in den letzten Jahren wohl kaum Genüge getan.
Maljutka hat genügend getan, um Helene aus ihrem Gefüge zu reißen.
Hätte ich doch ihrem Leben Genüge getan, denkt Helene.
Wenn Maljutka zum Ende hin zufrieden gewesen war, so wollte sie es auch zufrieden sein, aber sie kann nur raten, wie Helene ihre letzten Wochen verbracht hat.
Sie ruhen lassen.
Schlafen.
Es klopft, und Raphael steht im Zimmer. Raphael, der gute alte Freund! Sie schaukeln einander ein Weilchen in den Armen. Schön ist das. Raphael sieht selbst im Herbst sommerbraun aus, obwohl er nie in ein Sonnenstudio geht. Er führt das auf arabische Vorfahren zurück, die es in seiner Familie mütterlicherseits vor vielen Generationen gegeben haben soll. Nichts Genaues weiß man nicht, aber die Saga hält sich. Seine Mutter hieß mit Mädchennamen Makaffreh, und ein Bezug zu den ungläubigen Kaffern war schnell hergestellt. Helene findet zwar, dass die Namensähnlichkeit mit den irischen McCaffreys eher auf der Hand liegt, war aber damit auf taube Ohren gestoßen … Raphael kämpft mit Tapferkeit gegen immer wiederkehrende Depressionen, und dass er es geschafft hat, von seinem für Berliner Verhältnisse abgelegenen Wohnort ohne Auto bis hierher zu zuckeln, nötigt Helene alle Achtung ab. Das sagt sie auch.
Raphael druckst.
Warum druckst du, Raphael?
Ich werde weggehen aus Deutschland, nach Schweden.
Raphael erzählt, bei seinem Sommerurlaub in Schweden Lina kennengelernt zu haben. Was dann kommt, erinnert Helene sehr an die Geschichte mit Maljutka, von der sie Raphael nichts erzählt hat. (Raphael ist mit Matthes ebenso befreundet wie mit ihr, Loyalitätskonflikten sollte er nicht ausgesetzt sein.) Lina sei Meeresbiologin und arbeite an der Universität Lund. Erst auf den dritten oder vierten Blick sei sie ihm aufgefallen, als er schon eine Woche lang im Häuschen neben ihrem mit seiner Enkelin Urlaub gemacht hatte. Dann aber sei mit einiger Gewalt das Undenkbare passiert: Er habe sich heillos verliebt, vier lange Monate sei das nun her, Briefe und Wochenendbesuche hätten einander abgelöst, und immer hätte er mit Helene teilen, ihr mitteilen wollen, was da im Busche war, aber Helene hätte sich ja unterdessen verabschiedet. Zum Glück sei sie nun wieder aufgetaucht, aber jetzt sei gar keine Zeit mehr, um Rat zu fragen, um Beistand zu bitten, denn er hätte sich einfach entschieden, nach Lund zu ziehen. Probehalber. Seine Wohnung wolle er noch behalten vorerst. Er sieht Helene irgendwie verschüchtert an, als könnte es ausgerechnet Helene nicht passen, dass er dem Glück eine Falle stellte. Der will das aber außerordentlich passen, damit hatte sie ja nun überhaupt nicht gerechnet! Raphael unter der Haube, in festen Händen! Jetzt fällt ihr ein, dass sie vermutlich nie mehr wird tanzen können. Jetzt hätte sie eben gern mit Raphael getanzt. Ein Walzertyp ist sie, Raphael bevorzugt Tango. Wahrscheinlich wären sie ohnehin nur schwer übereingekommen, aber schade ist es doch.
Gehen wir Kaffee trinken?
Sie gehen. Raphael schiebt Helenes Rollstuhl, hat schon von Matthes erfahren, dass der wieder angesagt ist. Er ist eben doch ein Betuttler, es tut ihm gut, unentbehrlich zu sein.
In der Cafeteria herrscht reger Besuchsbetrieb, es wird schwer, ein Plätzchen zu finden, sodass Raphael den Cappuccino und die Schokolade mit hinausnimmt, in den Garten. Gartenwetter? Eigentlich nicht, aber Helene hat eine Decke ins Rollstuhlnetz gepackt, und wenn man die um die Knie legt, mag es gehen.
Raphael hört nicht auf, von Lina zu schwärmen. Von Maljutka zu schwärmen, fiele Helene nicht ein.
Ein Schwarm …
Warum ist ihr dieses warme Wort zu Maljutka nie eingefallen?
Raphaels Augen, sonst Asyle unendlicher Müdigkeit, zeigen heute einen versunkenen Glanz, den man nicht sofort wahrnimmt, der sich aber offenbart, wenn sein Blick umschwenkt. Sein Blick schwenkt ziemlich oft um, es ist, als wollte er die Leute teilhaben lassen an seiner Glückserzählung. Tatsächlich spricht er immer ein wenig lauter, als es guttut, Helene merkt es und rückt ein Stück ab, damit die Erzählspitzen sie nicht in die Ohren stechen. Hier draußen im Garten ist die Wahrscheinlichkeit, irgendjemand könnte Anteil nehmen an Raphaels Freude, allerdings sehr gering, der Wind schluckt den Ton, und die wenigen Menschen, die sich an die verstreut stehenden Tische gesetzt haben, sind mit sich selbst ausreichend beschäftigt. Helene lässt ihn sprechen, er wird den Anflug eines schlechten Gewissens nicht bemerken, das sich ein-, zweimal zeigt, weil Helene auf und davon geht, fort vom Linaschwarm. Plötzlich nimmt sie ein neues, unbekanntes Ziehen im Kopf wahr, eigentlich sitzt es genau an der Stelle, an der sie den Titanclip verortet, sie muss an einen seltsam schmerzfreien Wadenkrampf denken, der sich nach oben verlagert hat, ins Hirn. Es heilt, denkt sie begütigend, es heilt … Womöglich spürt sie die Absorption des ausgetretenen Restblutes, stellt sie sich vor, oder der Clip wird nun merklich von Gewebe umsponnen, das sich seiner Kontur anpasst, jeden Winkel, jede Ritze füllt. Es ist, als nehme sie das Fitzchen Metall endlich als zu sich selbst gehörig wahr, als fühle sie seine Existenz. Der Verstand meldet sich, sagt, dass es wohl eher unmöglich sei, etwas wie Blutabsorption oder das Einwachsen von Fremdkörpern tatsächlich wahrzunehmen, aber sie wischt ihn beiseite und sieht zufrieden aus, als Raphael ihr in die Augen schaut.
Du bist zufrieden mit mir?
Aber ja doch. Aber wirklich. Aber ganz sicher. Aber hat er denn keine Bedenken, Tochter und Enkel hierzulassen, Eltern und Freunde? Nein, hat er nicht. In Schweden erinnere ihn manches an die untergegangene DDR, das dürfe man zwar nicht laut sagen, aber er sage es jetzt einfach mal doch. Vieles sei kostenlos, so eine gute Schulspeisung für Kinder oder der Eintritt in Museen und Tierparks, es gebe Lehrmittelfreiheit und gemeinsamen Schulbesuch aller Kinder, Berufsqualifikationen bei weitergezahltem Gehalt … Halt, halt, halt, Raphael. Die Schulspeisung in der DDR war weder gut noch kostenlos, erst, wenn man drei Kinder hatte, zahlte man nichts mehr, möchte Helene entgegnen, für Museum und Tierpark hat man gelöhnt, wenn es auch mit den heutigen Preisen nicht zu vergleichen war, und die Lehrmittelfreiheit galt allenfalls in Berlin. Zwar gingen die Kinder bis zur achten Klasse gemeinsam zur Schule, ehe sie sich aufspaltete in zehnklassige und zum Abitur führende Zweige, aber wer weitergehen durfte, entschied nicht immer die Leistung, sondern auch die soziale Herkunft eines Schülers. Berufsbegleitende Qualifikationen waren selbstverständlich gewesen, das schon, aber das führte zu keinem nennenswerten Karriereschub. Wer mehr Geld hatte, konnte davon unter Umständen nicht mehr kaufen, wenn er keinen kannte, der an der