Konsumgüter
quelle saß. Hast du das vergessen, Raphael? Aber sie sagt das alles nicht, es wäre zu anstrengend, und außerdem möchte sie mit Raphael sowieso nicht über das untergegangene Land diskutieren. Seltsam, dass der querköpfige, dissidente Freund, der zu alten Zeiten viel erdulden musste an Bespitzelung und Berufsverbot, im Nachhinein nicht immer deutlich zu sehen scheint, was ihm da gefehlt hat. Schweden ist also nicht nur das Linaland, es ist voll beladen mit Raphaels Sehnsüchten nach der eigenen Kindheit, nach Jugendzeiten.
Sie schweigen, Raphaels gerötete Wangen sehen hinreißend aus auf dem braunen Teint, und Helene dürfte sich jetzt fast wie Lina fühlen, so gut gefällt ihr das.
Die Tage sind schneller als sie, es ist einfach nicht zu schaffen, auch nur einen einzigen von ihnen einzuholen und mit dem Gefühl ins Bett zu fallen, ihn hinter sich gebracht zu haben. Immer sind sie gerade entwischt, wenn sie einschläft, und wenn sie aufwacht, muss sie zusehen hinterherzukommen. Es passiert so viel. Zu viel, denkt sie, ihr Gehirn läuft seiner alten Form hoffnungslos hinterher. Es dauert, bis sie jemanden versteht. Wahrscheinlich beläuft sich die Verständnisscheide auf wenige Sekunden, aber sie rechnet sie noch nicht ein, ist jedes Mal entsetzt über das gähnende Loch zwischen dem Moment des Aussprechens und dem Verstehen. Lieber gerät sie in Panik, als in solch ein Loch hineinzufallen, denkt sie, aber ehe die Panik einsetzen könnte, hat sie meist doch verstanden. Sie versucht sich seit Kurzem heimlich daran, Texte zu schreiben, erinnert sich der Anfrage, die sie nicht zu einem Auftrag hatte werden lassen. Texte auf Hauswänden, auf Trottoirs oder Bänken müssen kurz sein, dem Vorübergehenden auch durch einzelne Worte ins Auge fallen, und sie müssen mit
Stadt
zu tun haben, sollen sie doch irgendwie zu
städtischen Gebilden
werden. Merkwürdigerweise verlockt es sie nicht, den Laptop zu benutzen, sie nimmt die linke Hand, was zu einer gewissen Übereinstimmung des Schreibtempos mit dem Sprechtempo führt. Erster Versuch:
der abend schwebt, zitternder ballon,
über der stadt, in ihren höfen
ruhen die beutetiere, erinnern
den feind, schlaf,
verkleidet als penner,
im flaschenjargon verfilzt …
Woher sie das nahm, ist ihr unklar, sie hat einfach geschrieben, Wort für Wort ist ihr so und nicht anders in den Sinn gekommen, die große Anstrengung steckt ihr buchstäblich in den Knochen, die, jetzt merkt sie es, unbändig zittern. Kaum aber kommen die nächsten Worte, löst sich die Spannung, sie muss weiterschreiben:
über der stadt
die wolkigen lastkähne
beladen mit schwaden
nebels den wir verlassen
haben
Helene glaubt nun wieder die gespannte Sehne im Kopf zu spüren, den Clip, der die Platzstelle sichert, und ihr wird warm, sehr warm, als sie den kühlen Text findet:
die kalte seide deiner lust
wie sie übern beton schlurrt
(die einfachen dinge im schlepptau:
liebe und schnee)
ist blau wie der fisch
der aus meinem mund schlüpft
Das hat aber nun gar nichts mit Stadt und Hauswand zu tun, das ist eher ein — Liebesgedicht?
Irgendwie hat sie gar nicht gemerkt, dass jemand ins Zimmer getreten ist. Die Stationsärztin sieht ihr neugierig über die Schulter
.
Na, das geht doch ganz gut, Frau Wesendahl, nicht? Was schreiben wir denn?
Sie antwortet nicht.
Sie findet es unverfroren, so beobachtet zu werden.
Matthes bringt die Stoffturnschuhe, sie müssen den rechten in der Tat aufschneiden. Er holt Gummiband aus der Tasche und näht es ein, damit er ihr nicht von den Knöcheln rutscht. Seine Umsicht macht sie wieder einmal sprachlos. Wenn er sie im Rollstuhl an den See schiebt oder die Klinik umrundet, sagt er fast nichts, er spürt wohl, dass auch Helene nichts sagen möchte, wenn er hinter ihr läuft, sie hat kein Zutrauen zu ihrer Artikulation, wenn ihr Gegenüber ihr nicht auf den Mund schauen kann. Aber ohnehin fällt es schwer, mit Matthes
ein Wort zu wechseln,
wo es doch darauf ankäme, sie wechselten erst einmal die Spur, in der sie unterwegs sind. Helene macht vorsichtig Anstalten, die Krankenrolle verlassen zu wollen. Matthes aber ist nach wie vor umsichtig, fürsorglich, rührend. Ist er väterlich? Ja, und das ist es gleichzeitig, was sie — stört. Mit einem Vater kann sie nicht auf Augenhöhe kommunizieren, ein Vater weiß besser als sie, was für sie gut ist,
ein Vater ist Trauermantel,
denkt sie.
Zuweilen überkommen sie wieder Worte wie früher, denkt sie.
Zuweilen weiß sie gar nicht, was diese Worte meinen, denkt sie.
Aber sie denkt!
Vater ist Keinvater
, denkt sie. Als sie überlegt, was das zu bedeuten hat, fällt ihr ein, wie Matthes über sie, die
Invalidin!
, die
Schadhafte!
, hergefallen war bei ihrem ersten Besuch in der Arberstraße, wie er sie geliebt hatte mit aller ihm zu Gebote stehenden Rücksichtslosigkeit, wie er sich ihrer versichert, sie bloßgelegt und zurückgefordert hatte, und auf einmal sieht sie ganz anders, was damals geschehen war. Nicht die Attacke, den Angriff …
Die Eiszeit hatte eingesetzt nach jenem
Sentimentalitten
— Tag im Juni.
Helenes Liste
hing als unübersehbarer Kluftmarker in der Küche, über dem Telefon. Sie hatte notiert, was sie mitzunehmen gedachte beim Auszug, und Matthes hatte stets so getan, als nähme er diese Liste gar nicht wahr. Gesprochen hatten sie darüber nicht, wie sie überhaupt Worte vermieden, die sie in Zugzwang hätten bringen können. Helene hatte gar nicht vor auszuziehen, aber Matthes an den Rand seiner Überlegenheit zu bringen, das wollte sie schon. Dass er sich einließ auf sie. Dass er zurückkam. Nicht einfach zu ihr, denn da war er ja, irgendwie, sondern auf frühere Arten der Gegenseitigkeit, die nicht ausgehöhlt waren durch Ritual und Benutzung. Den Gedanken an eine Trennung hatte sie nicht wirklich denken wollen, ihn aber stetig provoziert mit der Art ihres Rückzugs. Dazu hatte sie hoch gepokert. Der Maljutkaschreck saß ihr eigentlich tief genug in den Knochen, aber sie hatte ihn immer weiter in sich hineingedrückt, um fest auf dem Boden zu bleiben, während ihr Verstand sich hoch in die Luft erhob und manchmal einfach auf und davon ging. Wenn sie für sich und die Kinder einkaufte und kochte, für Matthes aber keinen Teller auf den Tisch stellte. Wenn sie seine Wäsche aussortierte, ehe sie die Maschine füllte. Wenn sie dabei aber immer Not fühlte, nicht Wut oder Groll, sich ihm anders nicht verständlich machen zu können. Matthes aber hatte nie etwas bemerkt dazu, hatte sich einen Teller aus dem Schrank genommen und schließlich begonnen, für sich selbst einzukaufen, dabei bedienten sie sich doch des Geldes von einem gemeinsamen Konto! Er hatte seine Wäsche gewaschen, aber Sachen der Kinder hinzugefügt, wenn noch Platz gewesen war in der Trommel, und er war dazu übergegangen, mit Lottchen am Nachmittag, wenn er von der Arbeit gekommen war, noch um die Häuser zu ziehen, Fußball zu spielen oder Bogen zu schießen, so, als wolle er die ihm noch verbleibende Zeit so gut wie möglich nutzen oder aber, hatte Helene zuweilen gedacht, sich der Kleinen so ins Herz schreiben, dass sie bei ihm bleiben wollte nach der Trennung. Die sie aber ja gar nicht erstrebte! Die sie vor sich herschleppte wie einen überflüssigen Sack, den er ihr abnehmen und einfach ins Gebüsch werfen sollte, wo er verrottete, während sie, mit drei Töchtern leider nicht