versöhnt
, endlich ins Verzeihen geraten konnten. Aber er nahm ihr den Sack nicht ab, der ihn offenbar ekelte und abstieß, sodass sie ihn schließlich verfolgte damit und er gar nicht mehr anders konnte, als vor ihr davonzulaufen. Er war schneller. Er war wendiger. Wenn er wollte, konnte er sehr lange nicht erreichbar sein für sie, obwohl sie nebeneinandersaßen beim Essen. Die Wand, die sie im oberen Geschoss ihres Hauses trennte, lud sich auf mit unerträglicher Wärme, sie mied sie und setzte sich stets in die am weitesten davon entfernte Ecke ihres Zimmers. Oft fürchtete sie, das Haus würde sich entzünden an der erhitzten Mauer und einfach wegbrennen, und wenn sie dann obdachlos auf der Straße stünden, wäre es ein Leichtes, er nähme sich eine eigene Wohnung. Also standen zwei Eimer Wasser immer bereit. Für die Balkonblumen, sagte sie. Für den Brand, meinte sie. So zurückgeworfen war sie schließlich auf sich und ihre Existenz in diesem Haus, dass sie, wenn sie auf dem Balkon stand, gar nicht mehr sah, was für ein Wetter war, welche Jahreszeit herrschte, ob die Flugzeuge flogen oder das Müllauto kam, ganz zu schweigen von der Welt, die irgendwo stattfand, weit draußen, ganz abgesondert von ihrem Dasein.
Dahinein fuhr der Schlag, der allem das bisschen Atem nahm, das es brauchte, um so wie bisher weiterzumachen. Der sie in die Bewusstlosigkeit entließ, aber Matthes zwang, alles auszuhalten, was sie nicht mehr aushalten musste. Sie hatte geschlafen, Matthes hatte gewacht. Nie wird sie wirklich wissen, was sich während jener Wochen abspielte. Aber dass Matthes sich ihrer vergewissern, ihr zeigen musste, wie es um ihn stand, und zwar nicht mit Worten, von denen er womöglich gar nicht wusste, ob sie sie tatsächlich erreichten, das glaubt sie auf einmal, und sie holt jenen Zettel aus der Hosentasche, auf den sie gestern die drei kurzen Texte schrieb.
Der letzte ist deiner
, sagt sie zum schweigenden Matthes.
Nur sehr langsam schwillt der Fuß ab. Dabei wird es Zeit. Wenn erst der November seine grauen nebligen Vorhänge herablassen und ihr den Blick zum See nehmen wird … Nein, sie möchte nach Hause. Noch kann sie aber nicht ohne den Rollstuhl auskommen. Am Tage des neuerlichen Abschieds von ihm wird sie auch den Abschied von hier verlangen, nimmt sie sich vor, und das tut gut. Was noch? Vierzehn Tage, denkt sie. Der Countdown. Das Rückwärtszählen. Heute haben wir vierzehn. Wenn wir eins haben, will sie fort sein. So ungefähr. Auf einen Zettel schreibt sie also die Zahlen von vierzehn bis eins, schön untereinander. Wie das Bandmaß bei der Armee, Matthes hat ihr davon erzählt. Hinter die Eins schreibt sie
Lenztext
, das soll die Probe aufs Entlassungsexempel werden. Bis dahin sind dreizehn leere Zeilen zu füllen. Sie tut es im Kopf.
Zunächst ruft sie Matthes an, er möge ihr den
Lenz
mitbringen, dazu an Sekundärliteratur, was auf die Schnelle aufzutreiben ist. Nicht zu viel, aber das Wichtigste. Zu Büchners Leben, zum Lenzleben. Irgendwas zu Psychosen, ganz egal, nur eine Systematik interessiert sie, die sie vor sich sehen, sich daran festhalten kann. Des Weiteren möchte sie nur noch einmal die Woche Besuch. (Also insgesamt noch zweimal, denkt sie, was Matthes aber nicht denkt. Eigentlich schade, aber sie kann es nicht ändern. Dann aber ruft sie sich zur Ordnung, ein Schlachtplan ist schließlich kein Schlachteplan, und teilt ihm wenigstens mit, dass das nur für die kommenden beiden Wochen gelte.)
Sie muss haushalten mit ihren Kräften. Noch immer schläft sie sehr viel, legt sich mindestens drei- oder viermal am Tag ins Bett, und unter einer Stunde kommt sie dabei nicht weg. Zerschlagen ist sie jedes Mal nach dem Aufwachen und braucht viel Zeit, um wieder in die Gänge zu kommen. Hat sie das geschafft, droht Therapie. Massage. Schwimmen. Wenig Zeit also für den Lenztext. Für Pietro, schreibt sie auf ein neues, leeres Blatt, legt es zunächst beiseite. Zuallererst aber will sie den Lenztext für sich schreiben. Ihn zwingen, hervorzukriechen aus dem Unterholz in ihrem Kopf.
Er muss.
Er muss!
Dass auch Lenz in seinem Kopf mit einem Schlag zu kämpfen hatte, will ihr erst beim zweiten, dritten Durchdenken auffallen, dann aber hat es sie.
Gefangen.
Matthes ist da und hat das alte, abgelederte Lenz-Heftchen mitgebracht, ein Psychiatrie-Lehrbuch aus alten Zeiten und eine Büchnerbiografie. Am liebsten schickte sie ihn sofort wieder weg. Am liebsten zöge sie ihn dicht zu sich heran. Und wirklich: Er pendelt einen Moment lang zwischen ihr und der Tür, sie kann es deutlich sehen. Unsicher ist sie wegen des Textchens von neulich, sie spürt keinen Maßstab, wahrscheinlich war es nichts als Gestammel, vielleicht aber auch zu verstehen. Hatte sie es nicht einen Moment lang selbst für ein Liebesgedicht gehalten? Fragen möchte sie ihn nicht danach.
Möchtest du meine Meinung zu deinen Texten hören?
Es ist wahr: Er kennt sie. Die Lähmung der rechten Gesichtshälfte kann ihre Mimik nicht aushebeln, die er zu lesen vermag. Sie sagt nichts. Sie zittert.
Da schnappt er plötzlich nach Luft, schnappt er? seine Augen laufen aus. Aber warum laufen denn seine Augen aus? Was ist denn das? Bis ihr klar wird, dass er weint, hat er sie längst gegriffen und drückt sie so sehr, dass sie meint, die Augen fielen ihr heraus. Nur einmal hat sie ihn weinen gehört, es klang auch wie ein Schnappen nach Luft und war noch durch eine Betonwand in ihrer letzten Wohnung vor der Arberstraße zu hören gewesen. (Die Katze hatte Bengts Wellensittich gefressen, was eine Tränenkatastrophe ausgelöst hatte.)
Gut
, sagt er nur,
gut
, dann verkriecht sich sein Kopf unter ihrem Hemd, und er weint sich leer.
Da kann sie nun auch nichts mehr tun.
Da wartet sie ab, bis er leer ist.
Ach, sie zwei beide, sie sind schon ein Pärchen wie Max und Klärchen …
Das sagt sie aber nicht.
Nachher geht er mit ihr zur Physiotherapie. Die Therapeutin hat darum gebeten, einen Angehörigen mitzubringen, sie will ihm Tricks und Kniffe zeigen.
Sie versenkt sich, versinkt. Nachts kann sie am besten arbeiten, sie hat dann Ruhe genug. Unterbricht, um zu schlafen, wacht aber wieder auf. Ein Vabanquespiel mit ungewissem Ausgang. Dass es ihr womöglich nie wieder gelingen könnte, einen literarischen Text zu verfassen, will sie nicht denken, aber es droht. Das spürt sie. Will es wissen. Was sie schon weiß: Es fällt schwer zu lesen, zu verstehen. Für jeden Satz der Büchnerbiografie braucht sie, wie sie findet, unendlich viel Zeit. Wenn sie am Verzweifeln ist, macht sie erst einmal Schluss, nicht ohne sich zuzureden. (
Das war doch gar nicht so schlecht. Das war doch ein Anfang. Das war doch etwas, woran du vor zwei Monaten noch nicht einmal dachtest. Das war doch aber ganz gut!
) Mit dem
Lenz
wird ihr leichter: Den kennt sie, erinnert sich, die Sätze werden schneller wieder vertraut, auch wenn es sehr lange her ist, dass sie ihn gelesen hat. Zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig? Sie legt Dateien an, macht sich Notizen, sie fährt zum Essen, sieht aber nicht mehr, was sie auf dem Teller hat, sie absolviert ihre Therapien und hat den Beutel immer dabei mit dem Lenz, mit dem Büchner, sie liest unentwegt,