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sie ist ein Phänomen

, sagt der Pfleger (aber das hört sie nicht), sie brüht Tee, sie trinkt, sie liest, bis sie schläft. Sie schläft viel, nach wie vor. Sie wacht auf, wirft sich kaltes Wasser ins Gesicht, trocknet es, fährt ans Fenster (tags) oder unter die Stehlampe (nachts), sie schreibt, sie liest, sie notiert. Das Schreiben mit links geht nicht schnell, auch am Laptop nicht, was sie freut, denn sie denkt ja auch langsam. Denkt sie. Denkt sie an die Entlassung? Weniger, aber zuweilen schon. Überlegt, wann sie es anbringt bei der Stationsleitung. Schiebt es, Tag für Tag. Sie will sicher sein, dass sie laufen kann. Als Matthes wieder kommt, fragt sie ihn schon an der Tür nach Büchners Dissertation, er schrieb über die Schädelnerven einer Karpfenart,

hast du davon gehört? was weißt du?

und findet es letztlich tröstlich, dass Matthes nichts weiß, nein, darüber nicht, hatte sie denn gedacht, jeder weiß alles? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich hat sie kein Maß, weiß nicht, was man weiß und was nicht, muss

nicht wissen

lernen, das Frohsein damit und das Wissen, wo’s steht, die ganze alte Leier. Was rauskommt, weiß sie noch immer nicht, aber schreibt, schreibt an gegen Wut, Wortbann und Wortbruch, sie hat es Pietro versprochen. (In Wirklichkeit hatte sie nichts versprochen, nur zugesagt, es zu versuchen, das weiß sie.) Ihr Haar scheint schneller zu wachsen, wenn sie viel denkt, denkt sie. Es sprießt nun schon zwei bis drei Zentimeter grau aus der Kopfhaut, und schmaler wird sie mit jedem Tag, die Kopfarbeit braucht also auch Energie. Das freut sie, die Jogginghosen trägt sie mit festgeknotetem Gummi, den anderen hat sie den Gürtel verordnet, den sie auf einem Basar der Ergotherapie erstand. (Ein

schmales Mädchen

wird sie zwar niemals werden, aber nicht dick zu sein ist ein früher Traum, den sie immer beiseiteschob angesichts der Wirklichkeiten, in denen sie sich tummelte.)

Also los.

Also ran.

An den Speck, an die Trauer, die Trübsal, an Stockung und Schwäche. So wird ein Schuh draus, den sie vielleicht nicht einmal mehr aufschneiden muss.

C: Magd

02

/hirnrausch.doc

Der Hirnrausch-Giftfahnder des Herrn

Im Winter

1835

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arbeitete Georg Büchner in Straßburg an seiner medizinischen Dissertation über die Schädelnerven einer Karpfenart. Ungefähr zur gleichen Zeit, eigentlich muss man sagen, kurz vor seinem Tode, schrieb er eine an beiden Ende offene Erzählung, die wie ein freigelegter Nervenstrang anmutet: genau seziert und das, was sichtbar ist, beschreibend. Mit naturwissenschaftlichem Blick beugt er sich über eine dreiwöchige Episode im Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz, des Sturm-und-Drang-Dichters, der ein gutes halbes Jahrhundert zuvor in ebenjenes Straßburg kam. Nicht freiwillig, aber unfreiwillig wäre auch nicht richtig: Von einem selbstlosen Pfarrer namens Oberlin wurde er hierher verbracht, der mit ihm bei sich zu Hause, in den Nordvogesen, nichts mehr anzufangen wusste, denn Lenz litt an einer Psychose. Büchner nimmt dokumentarisch genau auf, was überliefert wurde von jenen drei Wochen zwischen dem

20

. Januar und dem

8

. Februar

1778

, in denen Lenz bei Oberlin im Steintale weilte. Nicht fiktional, ist die Geschichte dennoch eine der modernsten Erzählungen der deutschen Literatur. Ein Dauerbrenner. Eine Lötlampe, unter deren Schein schmilzt und sich zusammenfügt, was zuvor sperrig und unfassbar dalag: eines Mannes Erkrankung an der Unfähigkeit, der ihn umgebenden Realität ins Auge zu sehen, weil er drinnen steckt, im Aug-Apfel, ohne es zu wissen, und herausschaut. Ein Verrückt-Werden, weil er deutlich spürt, dass seines Lebens Zweck im Aug-Apfel der Realität ganz ohne einen Gott auskommt und er doch mit Gottesaugen nach seinem Lebenszweck zu suchen gezwungen scheint. Ein Hirnrausch-Giftfahnder, der den Idealismus der Kunst für» die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur «und damit für ein verklärendes Narkotikum hält, es aber im Leben nicht schafft, sich der Realität zu vergewissern, es sei denn, durch selbst zugefügten, physischen Schmerz. Oberlins christlich-religiöses Weltmodell bietet ihm keinen Zugang mehr, aber er hat ihm keine rationalistisch-realistische Alternative entgegenzusetzen, sodass die Welt zum Hieroglyphen wird …

In der Eingangsszene wandert Lenz auf Waldbach im Steintale zu.»Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte«, heißt es da. Mit dem Kopf nach unten liegt das Ungeborene in seiner Mutter. Lenz scheint sich zu sehnen nach diesem Zustand des Ungeborenseins, und wir, die Nachgeborenen, sollten ihn als zu früh Geborenen respektieren lernen. Vorhang auf.

Vollkommen verrückt will ihr das vorkommen. Wie konnte sie das nur schaffen?! Zwei Jahrhunderte unterwandern, von einer neurologischen Klinik aus! Höchstens nach den Geburten der Kinder hat sie sich so wohlgefühlt in der Erschöpfung. Eine gute Vorrede, findet sie, für eine Lenzlesung. Fiebrig hat sie ihn auf die Diskette mit dem Angorakaninchenauge kopiert. Entkräftet fühlt sie sich, aber ihre Kraft hat sich dem Prolog überantwortet, sie kann sie fühlen, während sie ihn wieder und wieder liest. Dazwischen schließt sie die Augen, versucht zu rekapitulieren, wie es ihr früher immer gelungen war bei eben durchgearbeiteten Texten, aber das ist zu viel verlangt, das geht nicht. Beinahe möchte sie wütend werden darüber, aber die Freude vermag den Groll schließlich abzuwürgen.

Matthes soll das ausdrucken und Pietro schicken. Heute war er da, zum zweiten Mal in den letzten beiden Wochen. Für übermorgen hat sie ihre Entlassung in die Wege geleitet. Matthes wusste es schon, war von der Klinik sofort informiert worden. Helene läuft, seit gestern steht der Rollator wieder in ihrem Zimmer, der Fuß im Gestell ist abgeschwollen. Ist anfällig, das schon, aber es wird gehen, sagt sie sich, zumal sie die Stütze auch weiterhin ums Bein geschnallt tragen wird. Jetzt aber, nach letzter Wäsche und dem Zähneputzen, löst sie sie.

Schnell kommt der Schlaf. Tief, traumlos.

Vorbereitungen zum Entlassungsgespräch. Blutdruck, Gewicht. Das Übliche.

Sie wird in den Raum des Oberarztes gerufen.

Auf den Gesichtern der Umstehenden (Schülerin, Schwester, Physiotherapeutin, Assistenzarzt, Oberarzt) zeigt sich eher Selbstzufriedenheit als Freude über ihre offenbar hinlänglichen Bemühungen, sich in der entstandenen Lage zu orientieren. Das stört sie nicht, sie stehen auf einem anderen Punkt dieser Geschichte, denkt sie. Nein, den Arm wird sie vermutlich nie wieder heben können, meint der Oberarzt auf ihre Nachfrage. Sein Tonfall ist warnend, merkwürdig. Ihr Tonfall ist anspruchslos, ebenso merkwürdig.

Man plänkelt über die kommende Zeit, über Ein- und Umbauten in der Wohnung (eine Einstiegshilfe in die Dusche, eine Stütze neben der Toilette), über den Schlaf, den sie sich gönnen soll, sobald er anklopft, über die Rente.

Rente –

Helene will entgegnen, jedoch ist die Luft schneller raus, als sie anzuhalten wäre. Sollen sie von Rente reden, das hat Zeit. Sie aber hat keine, sie weiß gar nicht, wie und warum sie es noch bis morgen hier aushalten soll, sie möchte weg, fort von hier. Irgendwie scheint ein Konsens nicht herstellbar, was ihr eine Art Sorgen bereitet, die sie an früher erinnert. Sie hatte manchmal zu