flattern
begonnen, wie sie es nannte, wenn sie merklich an anderen vorbeifaselte. Nur, dass sie hier kaum etwas sagt, sondern die anderen an ihr vorbeifaseln.
Als sie wieder vor dem Raum steht, weiß sie gar nicht mehr, wovon im Weiteren die Rede gewesen war.
Sie besinnt sich, klopft noch einmal an.
Ja bitte?
Ja bitte … Ich habe hier noch etwas für den Oberarzt, mit Widmung …
Beiläufig lächelnd hat ihr die Schwester das Buch abgenommen. Tür wieder zu.
Na gut,
Der Beauftragte
wird das schon verstehen.
Letzter Abend, versonnene Stimmung.
An Peter Preißler hat sie noch einmal gedacht und ihn im Stillen um Entschuldigung dafür gebeten, dass sie Matthes nichts erzählt hat von ihm.
Abschiede hat sie ausgeteilt wie Kekse, irgendwann war die Dose leer gewesen, sie hat sich eilig zurückgezogen in ihr Zimmer. Zum Abendessen ist sie nicht mehr gegangen, eben kein Abschied mehr vorrätig.
Sie steht am Fenster, es wird jeden Tag früher dunkel. Im Dämmerlicht sieht sie sich plötzlich im Hochsommer auf dem Balkon in der Arberstraße stehen, ans Geländer gelehnt. Drückt die Zigarette aus. Sieht sich um, weil sie meint, jemand habe mit einem Schnipsgummi nach ihr geschossen und sie am Kopf getroffen. Kein Schmerz. (Noch nicht.) Vor den Augen aber zerhackt sich die Welt in auseinanderstrebende Szenen: Die Frau und das Kind waren eben noch am linken Bildrand zu sehen gewesen. Jetzt aber verschwinden sie aus dem rechten, ohne dass sie hätte sagen können, wie sie dahin gekommen sind.
Die Knie knicken ein.
Eine große Auflehnung bringt sie dazu, die Treppe hinunterzulaufen.
Matthes sitzt im Wohnzimmer, liest. Sie setzt sich leise in den Sessel neben seinem, er sieht fragend zu ihr hin.
Ich sterbe
, sagt sie ruhig.
Du stirbst nicht
, sagt er ruhig.
Über das Buch
Vom Hirnschlag erwacht — die atemberaubende Geschichte einer HeilungHelene Wesendahl weiß nicht, wie ihr geschieht: Sie findet sich im Krankenhaus wieder, ohne Kontrolle über ihren Körper, sprachlos, mit Erinnerungslücken. Ihr Weg zurück ins Leben konfrontiert sie mit einer fremden Frau, die doch einmal sie selbst war.Kathrin Schmidt packt ihre Leser diesmal durch die Beschränkung, und zwar im wörtlichen Sinne. Mit den Augen ihrer erwachenden Heldin blicken wir in ein Krankenzimmer, auf andere Patienten, das Pflegepersonal und den eigenen Körper, der plötzlich ein Eigenleben zu führen scheint. Und wir erleben die mühsamen Reha-Maßnahmen mit, die Reaktionen der Familie, den aufopferungsvollen Einsatz ihres Mannes — und die bruchstückhafte Wiederkehr ihrer Erinnrung.Was da zutage tritt, konfrontiert Helene mit einem Leben, in dem sie sich kaum wiedererkennt, und das vieles in Frage stellt, was in der neuen Situation so selbstverständlich scheint. Sie entdeckt frühe Brüche in ihrer Biographie, verdrängte Leidenschaften und aus der Not geborene Verpflichtungen. Als ihr bewusst wird, dass ihr Herz sich bereits auf Abwege begeben hatte und sie den Mann, der sie jetzt so eifrig pflegt, eigentlich verlassen wollte, droht sie den Boden unter den Füßen zu verlieren.Kathrin Schmidt gelingt das Erstaunliche: Sie macht den Orientierungs- und Sprachverlust nach einer Hirnverletzung erfahrbar und zeigt einen Weg der Genesung, der in zwei Richtungen führt, zurück und nach vorn. Dabei entsteht ein Entwicklungsroman ganz eigener Art, der durch seine innere Dynamik fesselt und durch die Rückhaltlosigkeit, mit der seine Heldin sich mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert, fasziniert. Er überzeugt vor allem durch die bewegende Schilderung eines sprachlichen Neubeginns.
Über die Autorin
Kathrin Schmidt, geboren 1958 in Gotha, arbeitete als Diplompsychologin, Redakteurin und Sozialwissenschaftlerin. Sie erhielt zahlreiche Preise, darunter den Leonce- und Lena-Preis 1993. Ihr 1998 erschienener Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition wurde mit dem Förderpreis des Heimito-von-Doderer-Preises und dem Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1998 ausgezeichnet. Für Ihren Roman Du stirbst nicht erhielt sie 2009 den Preis der SWR-Bestenliste. Sie lebt in Berlin. Bisherige Veröffentlichungen: Poesiealbum 1979, Gedichte, 1982. Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik, Gedichte, 1987. Flußbild mit Engel, Gedichte, 1995.Weitere Titel bei Kiepenheuer & Witsch: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition, Roman, 1998. GO-IN der Belladonnen, Gedichte, 2000. Koenigs Kinder, Roman, 2002, Seebachs schwarze Katzen, Roman, 2005.
Zusatzinformationen
Die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2009 ist Kiepenheuer & Witsch-Autorin Kathrin Schmidt. Sie erhält die Auszeichnung für ihren Roman Du stirbst nicht.»Der Roman erzählt eine Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt. Silbe für Silbe, Satz für Satz sucht die Heldin, nach einer Hirnblutung aus dem Koma erwacht, nach ihrer verlorenen Sprache, ihrem verlorenen Gedächtnis. Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und lässt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen. Zur Welt, die sie aus Fragmenten zusammensetzt, gehört die zerfallende DDR, gehören die Jahre zwischen Wiedervereinigung und dem Beginn unseres Jahrhunderts. So ist die individuelle Geschichte einer Wiederkehr vom Rande des Todes so unaufdringlich wie kunstvoll in den Echoraum der historisch-politischen Wendezeit gestellt«, so die Begründung der sieben Jury-Mitglieder.Der Jury für den Deutschen Buchpreis 2009 gehören an: Richard Kämmerlings (Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), Michael Lemling (Geschäftsführer der Buchhandlung Lehmkuhl, München), Martin Lüdke (freier Literaturkritiker), Lothar Müller (Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung), Iris Radisch (Literaturredakteurin der ZEIT), Daniela Strigl (Literaturkritikerin und — wissenschaftlerin an der Universität Wien) und Jurysprecher Hubert Winkels (Literaturredakteur beim Deutschlandfunk).»Auswahl ist nie wirklich gerecht, aber im Streit um die Qualität ist sie nicht nur unvermeidbar, sondern auch gerechtfertigt, solange sie an nichts anderem als am Maßstab der Qualität orientiert ist«, sagte Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins und Vorsitzender der Akademie Deutscher Buchpreis, bei der Begrüßung der rund 400 Gäste im Kaisersaal des Römers.»Wer vor allem beim Deutschen Buchpreis gewinnt, ist die Literatur selbst. «Kathrin Schmidt hat sich durchgesetzt gegen: Rainer Merkel Lichtjahre entferntHerta Müller AtemschaukelNorbert Scheuer Überm RauschenClemens J. Setz Die FrequenzenStephan Thome GrenzgangDamit erhält sie ein Preisgeld von 25.000 Euro. Die Jury hat im vergangenen halben Jahr 154 Titel gesichtet, die zwischen dem 1. Oktober 2008 und dem 16. September 2009 erschienen sind. Aus diesen Romanen wurde eine 20 Titel umfassende Longlist zusammengestellt. Daraus haben die Juroren sechs Titel für die Shortlist gewählt.Mit dem Deutschen Buchpreis 2009 zeichnet der Börsenverein zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus.