Der Gedanke an Abschied von Matthes frisst ihre Luftröhre von innen her auf. Trennung …
Ja, Matthes wohnte oben in seinem Zimmer, sie schlief unten im ehemals gemeinsamen Bett. Die Dinge hatten sich wohl so weit geordnet, dass ihr Weggang für ein paar Monate hätte funktionieren sollen. Monate, in denen sie herausbekommen wollten, ob noch etwas zog? An ihren vierundvierzigsten Geburtstag hatte sie nicht denken können, deshalb war er ausgefallen. Wenn sie zusammen gewesen waren, hatte verdrießliche Stummheit allen Tagen die Spitzen abgebrochen, dass keiner über den anderen hinausragte und sie aufpassen mussten, dass sie sie in ihrer Gleichförmigkeit nicht platt drückten. Zwei Kinder wohnten schließlich noch zu Hause. Lottchen hatten sie noch nichts davon gesagt, aber Mareile dachte wohl richtig. Ihre getrennten Schlafzimmer hatten sie mit unterschiedlichen Schlaf-Wach-Rhythmen erklärt und mit Matthes’ Schnarchen. Das war wirklich sehr laut, hatte sie aber nie gestört. Auf einmal stört es sie, dass sein Schnarchen nicht bis hierher dringt, sie möchte es hören, jetzt, sofort! Zwar sah er zweifellos jugendlich aus neulich, aber in Wirklichkeit altert er. Die Muskelzüge in seinem Gesicht sehen schlaffer aus als noch vor fünf Jahren. Der Rücken rundet sich oben immer stärker, und wo früher sein Bauch sehnig glänzte, wölbt er sich heute ganz leicht vor und zieht Ansätze von Speckwülstchen um die Hüften nach sich. Die Verschlussknöpfe der
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er-Hosen lassen die Knopflöcher einreißen, die sie mit der Nähmaschine wieder festzurrt. Festzurrte. Er muss nähen lernen oder die Hosen eine Nummer größer kaufen.
Ihre Fürsorglichkeit nervt.
Wie soll sie ihn ansehen mit dem wiedergekehrten Wissen im Hals?
Einfach keine Zeit, mit dem Laptop zu ordnen. Dabei ist jedes Wort eine richtige Sandkohlroulade. Als kleines Mädchen hat Helene oft stundenlang allein im Sandkasten gespielt und Kohlrouladen gewickelt: Nassen Sand in Ahornblätter eingeschlagen, die zum Schluss mit dem Stiel durchbohrt wurden, damit sie nicht aufgingen. Mit der Zeit hatte sie die Fertigkeit des perfekten Wickelns erreicht. Die Rouladen hatte sie angestaunt und nach Schönheit geordnet. Ging sie am Abend ins Bett, lagen große Haufen von Sandkohlrouladen vor ihren Augen, wenn sie sie schloss. Diesen Stolz findet sie wieder mit jedem Wort, das aus ihrem zerschnittenen und zusammengetackerten Gehirn auf den Bildschirm leckt. Aber sie kommt kaum dazu. Ergo, Physio, Logo, Psycho — die Heilverfahren werden hier nur beim Vornamen genannt, jeder weiß, dass sie allesamt Therapie heißen, und allesamt stehlen sie Zeit. Sie zupft Zeit aus der Dunkelheit, wenn die drei Zimmernachbarinnen schlafen, oder sie fährt am Tage im Rollstuhl hinunter aufs Freigelände, den Laptop an die Seite geklemmt. Leider ist er alt und schwach, der Akku spielt nur noch kurze Zeit mit. Dabei weiß sie doch längst, dass sie längere Zeiten, als der Akku hergibt, sowieso nicht schafft.
Helene sitzt im Schatten der Linden und ist froh, dass niemand sie besucht. Das Mittagessen ist vorbei. Es gab Königsberger Klopse. Die Kapernsauce hinterließ nach dem Schlucken eine pelzige Anmutung auf der Zunge. Sie kennt das aus Großküchenzeiten, nannte es früher Zungenratte. Die Zungenratte bleibt noch eine Weile, lässt sich nicht so leicht vertreiben. Aber Matthes hatte ihr doch Kaugummi mitgebracht, als er gestern da war — sie wühlt die Trainingshosentasche durch und findet ihn tatsächlich. Nicht leicht, ihn auszupacken. Die Linkshand fingert ungelenk, obwohl das Empfinden sie als geschickt durchgehen lässt. Na so was …
Sie sitzt und kaut. Scharfer Pfefferminzgeschmack fegt den Rachen frei. Der Laptop bleibt zugeklappt in der Tasche. Wollte sie nicht ordnen? Sie ordnet ohne Laptop, will eine Liste in ihrem aufgebohrten, zersägten, wieder zusammengefügten Kopf aufsetzen, und sie kommt ihr erst einmal ganz normal vor. Eine normale, vorschriftsmäßige Liste. Links sollen die Schlüsselwörter stehen, rechts, was sie darunter versteht. Es fällt ihr schwer, auf Anhieb etwas zu verstehen, deshalb wird sie für die rechte Seite viel länger brauchen als für die linke. Links trägt sie das Wort Liebe ein. Rechts die Namen von Männern? Nein, sie lacht, rechts sollte stehen, woran sie sich erinnert, wenn sie das Wort Liebe in den Mund nimmt. Im Moment nimmt sie aber eigentlich gar nichts in den Mund. Sie lässt auch nichts aus dem Mund heraus. Alles spielt sich woanders ab. Sie versucht sich die Hirnregionen vorzustellen. Leider weiß sie noch nicht einmal, wo das geplatzte Aneurysma gesessen hatte! Aber gesessen hatte es, so viel steht fest.
Wo war sie stehen geblieben? Bei der Liebe. Ein Gefühl. Es sorgt dafür, dass das Blut schneller kreisläuft. Denkt sie Liebe, denkt sie sich heiß und rot. Denkt daran, wie matthessüchtig sie war. Wo ist das hin, wo geblieben? Irgendwo muss es doch sein! Sie ärgert sich, dass sie es nicht findet in ihrem Kopf. Dass es sich nicht greifen lässt. Es bewegt sich hinter weißen Laken, die im Hirn flattern, als ginge da Wind. Was für ein Wind sollte im Hirn gehen? Hirnwind? In den Hirnwindungen? In die Hirnwindrichtungen? Mit solchem hirnwindrichtungsweisendem Getöse wird alles Fassbare unfassbar, sie verzweifelt, möchte den Laptop wegschleudern, bekommt ihn aber in der Aufregung gar nicht aus seiner Hülle heraus. Warum will sie ihn aber überhaupt aus seiner Hülle rausbekommen, sie kann doch das ganze Ding gleich wegschleudern, weg, weg, in den kleinen Wassergraben, der ganz in der Nähe fließt.
Jemand ruft
Mama,
die Stimme kommt ihr bekannt vor, die Stimme macht, dass sie etwas wie Liebe sofort spüren kann, und dabei wird sie nicht heiß und rot. Es muss noch eine andere Art Liebe geben. Warum weiß sie das einfach nicht mehr? Warum versteckt sich das, bis jemand Mama ruft und sie herausreißt aus dem Listenschreiben, das nichts als ein Plan, ein Vorhaben ist und schon beim ersten Eintrag sieben Siegel zeigt?
Ein kleines, Mama rufendes Mädchen kommt an der Hand eines Mannes den Betonweg entlanggerannt. Die beiden bleiben stehen, das Mädchen sieht ihr erwartungsvoll in die Augen. Neugierig schaut sie zurück. Langsam dämmert ihr, dass sie es kennt. Es heißt Lottchen.
Lottchen sitzt auf den Rollstuhlknien, als sie gemeinsam zurückfahren auf Station.
Wo wohnst du denn?
Lottchen möchte wissen, wo sie wohnt. So lange dauert ihr also die Abwesenheit, dass sie glaubt, die Mama sei umgezogen. Ausgezogen. Sie wollte ja auch ausziehen. Kommt die Tatsache, dass sie sich hier aufhält, der Absicht nun nahe oder entfernt sie uns von ihr? Wieder so etwas, das sich nicht weiter greifen lässt, als die Frage hergibt. Die (im Stillen) ausgesprochene Ungewissheit wehrt jede Art von Antworten ab, indem sie für Konfusion sorgt in Helenes Kopf. Trennungsgequatsche wäre deplatziert in dieser Situation. Sie versucht, gewaltsam für Ruhe zu sorgen. Schließt die Augen, was gut geht, da Matthes sie schiebt.
Au
, schreit Lottchen belustigt,
du kneifst mich ja!
Und Reinhardsbrunn? Wie hat es dir gefallen bei den Großeltern?
Trumpfkarte. Lottchen erzählt, was der Opa alles angestellt hat mit ihr. Im Wald Himbeeren und Blaubeeren gesucht. Vögel, Schmetterlinge und Pflanzen beim Namen genannt. Eine richtige Schmetterlingsexpertin sei sie geworden, sagt Matthes.
Und siehst du, Mama, das da ist bloß ein Kohlweißling, davon gibt’s viele, aber ein Tagpfauenauge ist schon viel schöner und seltener, und einen Schachbrettfalter oder einen Admiral musst du richtig suchen!
Ihre eigene Kindheit war von Schmetterlingen, Pflanzen und Vögeln bestimmt gewesen, die der Vater hingebungsvoll mit ihr beobachtet hatte. Sie ist gerührt, dass er das auch mit ihrer Tochter tut, während ihre Mutter, wie früher, zu Hause kocht und bäckt. Danach braucht sie nicht zu fragen. Ihr Verhalten eine Endlosschleife. Auf einmal hat es etwas sehr Beruhigendes, dass sich die Geschichten wiederholen lassen. Die Empörung darüber, dass ihre Mutter zu Hause bleibt, um die Aufgaben des Weibchens zu übernehmen, während der Vater ihr die Welt zeigt, ist nicht mehr auffindbar. Wenn sie nach Hause kamen, war die Wäsche gewaschen und aufgehängt, die Kartoffeln dampften aus der Schüssel, es gab gebratene Blutwurst und Sauerkraut, der Geruch zieht ihr sofort in die Nase. Nie hätte sie gedacht, unter ihrem feministischen Überzieher so etwas wie Nachsicht auszumachen für die Rollenverteilung ihrer Eltern. Nachsicht? Nein, Dankbarkeit ist es womöglich, die sich da breitmacht. Sie sieht ihren Vater plötzlich, wie er die Mutter küsst nach der Wiederkehr, mit Stolz im Blick, warum hat sie das früher nicht mehr gesehen, als sie es wirklich sah, wenn ihr Vater mit den kleinen Schwestern nach Hause kam von den immer gleichen Touren und sie schon groß genug war, sich aufzulehnen gegen die vermeintliche Bestimmung, die doch auch auf sie wartete … Ihre Mutter war immer berufstätig gewesen, hatte tagaus, tagein als Lehrerin Horden von Schulkindern Lesen und Schreiben beigebracht — hätte ihr das nicht reichen müssen? Hätte sie im Handeln ihrer Eltern nicht Aufgabenteilung sehen können? Ging es bei ihnen nicht viel ruhiger, viel weniger chaotisch zu als in ihrem eigenen Haushalt mit den fünf Kindern, und war das nicht eine Folge dessen, dass klar war, wer was tut? Jeder das, was er am besten kann?