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»Gott sei Dank!«, rief der Mann. Er streckte Jonesy eine Hand entgegen und schlurfte über die dünne Neuschneeschicht auf ihn zu. »O Mensch, Gott sei Dank, ich habe mich verlaufen, ich irre seit gestern durch den Wald, ich dachte schon, ich würde da draußen sterben. Ich ... ich ...«

Er rutschte aus, und Jonesy packte ihn an den Oberarmen. Er war groß, größer als Jonesy, der einen Meter achtundachtzig maß, und war auch kräftiger gebaut. Trotzdem kam er Jonesy federleicht vor, als hätte die ganze Furcht ihn irgendwie ausgehöhlt und leicht wie einen Schmetterling gemacht.

»Ganz ruhig, Mann«, sagte Jonesy. »Ganz ruhig. Sie sind in Sicherheit. Alles wird gut. Kommen Sie, wir gehen rein und wärmen Sie ein bisschen auf. Wie wäre das?«

Als wäre »aufwärmen« das Stich wort gewesen, fing der Mann an mit den Zähnen zu klappern. »G-g-gern.« Er versuchte zu lächeln, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Jonesy fiel wieder seine extreme Blässe auf. Es war an diesem Morgen durchaus kalt hier draußen, geringe Minusgrade, aber der Mann war kreidebleich. Die einzigen Farbtupfer in seinem Gesicht, von dem roten Fleck einmal abgesehen, waren die braunen Ringe unter seinen Augen.

Jonesy legte dem Mann einen Arm um die Schultern, plötzlich mitgerissen von einem absurden, blödsinnigen Zutrauen zu diesem Fremden, ein Gefühl so stark, wie er es für seinen ersten Schwärm auf der Junior High School empfunden hatte — Mary Jo Martineau, in einer ärmellosen, weißen Bluse und einem geraden, knielangen Jeansrock. Er war sich jetzt vollkommen sicher, dass der Mann nichts getrunken hatte -es war nur Angst (und vielleicht Erschöpfung), die ihn so unsicher gehen ließ. Doch er roch aus dem Mund -ein Geruch wie von Bananen. Es erinnerte Jonesy an den Äther, den er in den Vergaser seines ersten Autos gesprüht hatte, ein Ford aus der Vietnamkriegszeit, damit er an kalten Morgen ansprang.

»Wir gehn rein, ja?«

»Ja. K-kalt. Gott sei Dank sind Sie vorbeigekommen. Ist das -«

»Meine Hütte? Nein, die gehört einem Freund.« Jonesy öffnete die lackierte Eichentür und half dem Mann über die Schwelle. Der Fremde keuchte, als ihm die warme Euft entgegenschlug, und seine Wangen röteten sich. Jonesy war erleichtert zu sehen, dass der Mann doch noch etwas Blut im Leib hatte.

6

Ihre Hütte war dafür, dass sie so tief im Wald stand, durchaus komfortabel. Wenn man hereinkam, betrat man einen großen Raum - Küche, Ess- und Wohnzimmer in einem -, und dahinter befanden sich noch zwei Schlafzimmer und ein weiteres im Obergeschoss unter der Dachschräge. Das große Zimmer war erfüllt vom milden Goldlicht des Kiefernholzes und duftete auch danach. Auf dem Boden lag ein Navajo-Teppich, und ein Micmac hing an der Wand und zeigte tapfere kleine Speerjäger, die einen riesigen Bären umstellt hatten. Ein rustikaler Eichentisch, groß genug für acht Personen, dominierte den Essbereich. Es gab einen Holzofen in der Küche und einen offenen Kamin im Wohnzimmer; wenn beide brannten, wurde man in der Hütte rammdösig vor Hitze, auch wenn draußen dreißig Grad minus herrschten. Die Westwand war komplett verglast, und dort schaute man einen langen steilen Hang hinunter. In den Siebzigern hatte es dort gebrannt, und die verkohlten Bäume standen kreuz und quer in dem dichter werdenden Schneefall. Jonesy, Pete, Henry und der Biber nannten diesen Abhang »die Schlucht«, denn so hatten schon Bibers Dad und seine Freunde dazu gesagt.

»0 Gott, Gott sei Dank, und Ihnen sei auch gedankt«, sagte der Mann mit der orangefarbenen Mütze zu Jonesy, und als Jonesy grinste - das war ja eine ganze Menge Dank -, lachte der Mann schrill auf, wie um zu sagen, ja, er wisse schon, das sei komisch, so etwas zu sagen, aber er könne nicht anders. Er atmete ein paarmal tief durch und sah kurz aus wie einer dieser Fitnessgurus, die man auf obskuren Kabelkanälen sah. Und jedes Mal, wenn er ausatmete, sagte er etwas.

»Gott, heute Nacht hab ich wirklich gedacht, es wäre zu Ende mit mir ... Es war so kalt ... Und die feuchte Luft, das weiß ich noch ... Ich weiß noch, wie ich dachte, o Junge, oje, was ist, wenn es jetzt auch noch schneit... Ich habe gehustet und konnte nicht mehr aufhören ... Dann ist was gekommen, und ich habe gedacht, ich muss aufhören zu husten, wenn das ein Bär ist oder so, dann ... wissen Sie ... reize ich ihn doch oder so ... aber ich konnte nicht, und nach einer Weile ist es ... ist es ganz von alleine weggegangen -«

»Sie haben heute Nacht einen Bären gesehen?« Jonesy war gleichwohl fasziniert wie entsetzt. Er hatte davon gehört, dass es hier oben Bären gab - der alte Gosselin und seine Saufkumpane im Laden erzählten mit großer Begeisterung ihre Bärengeschichten, zumal Leuten, die nicht aus Maine kamen -, aber bei dem Gedanken, dass dieser Mann, der sich verlaufen hatte und ganz auf sich gestellt war, tatsächlich heute Nacht von einem bedroht worden war, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Es war, als würde man einen Matrosen von einem Seeungetüm erzählen hören.

»Ich weiß nicht, was es war«, sagte der Mann und warf Jonesy mit einem Mal einen verschlagenen Seitenblick zu, der Jonesy gar nicht gefiel und den er nicht zu deuten wusste. »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Da hat es schon nicht mehr geblitzt.«

»Sogar auch Blitze? Mann!« Wäre der Typ nicht so augenscheinlich verzweifelt gewesen, dann hätte sich Jonesy gefragt, ob er hier nicht buchstäblich einen Bären aufgebunden bekam. Aber auch so war er sich da nicht ganz sicher.

»Ein Trockengewitter, schätze ich mal«, sagte der Mann. Jonesy konnte förmlich sehen, wie er es mit einem Achselzucken abtat. Er kratzte sich den roten Fleck auf der Wange, der nach einer leichten Frostbeule aussah. »Im Winter be

deutet das, dass ein Sturm im Anzug ist.«

»Und das haben Sie gesehen? Heute Nacht?«

»Ich schätze mal schon.« Der Mann warf ihm wieder einen

flinken Seitenblick zu, doch diesmal konnte Jonesy darin keine Verschlagenheit entdecken, also hatte er sich vermutlich zuvor getäuscht. Er sah nur Erschöpfung. »In meinem Kopf ist alles durcheinander ... mir tut der Bauch weh, seit ich mich verlaufen habe ... Ich habe immer Magenschmerzen, wenn mir bange ist, schon als ich ein kleiner Junge war...«

Und er war immer noch wie ein kleiner Junge, dachte Jonesy, wie er sich da so völlig ungeniert umsah. Jonesy führte den Typ zum Sofa vor dem Kamin, und der Typ ließ sich führen.

Bange. Er sagt tatsächlich bange wie ein Kind. Wie ein Kleinkind.

»Geben Sie mir Ihren Mantel«, sagte Jonesy, und während der Typ ihn zunächst aufknöpfte und sich dann an dem darunter liegenden Reißverschluss zu schaffen machte, dachte Jonesy wieder daran, wie er ihn für einen Hirsch gehalten hatte, für einen Hirschbock, um Himmels willen - wie er diese Knöpfe für Augen gehalten und beinahe eine Kugel hineingejagt hatte.

Der Mann bekam den Reißverschluss halb auf, und dann klemmte er. Der kleine goldfarbene Schieber hing an einer Seite im Futter fest. Er schaute sich das an - ja, starrte es an -, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Und als Jonesy nach dem Reißverschluss griff, ließ der Mann die Hände sinken und ließ Jonesy einfach machen, wie ein Erstklässler, der aufstand und die Lehrerin alles richten ließ, wenn er Galoschen oder Jacke falsch herum anhatte.

Jonesy bekam den Schieber frei und zog den Reißverschluss auf. Jenseits des Panoramafensters verschwand die Schlucht allmählich; man sah nur noch die schwarz hingekrakelten Gestalten der Bäume. Seit fast dreißig Jahren kamen sie gemeinsam zur Jagd hier herauf, fast dreißig Jahre ununterbrochen, und nie hatte es mehr als einen kleinen Schneeschauer gegeben. Offenbar war es damit nun vorbei, aber woher wollte man das wissen? Bei den Jungs im Radio und Fernsehen hörten sich zehn Zentimeter frischer Pulverschnee heutzutage gleich immer wie der Beginn der nächsten Eiszeit an.