»Hallo«, sagte er. »Ich bin Joe Clarendon. Und wer sind Sie?«
»Rick McCarthy«, sagte der und stand auf. Die Tagesdecke rutschte herunter, und Jonesy sah, dass ihm ein ziemlicher Spitzbauch aus dem Pullover ragte. Na, dachte er, wenigstens daran ist nichts ungewöhnlich. Das ist die Krankheit der Männer mittleren Alters, und die wird uns in den nächsten zwanzig Jahren zu Millionen hinwegraffen.
McCarthy streckte die rechte Hand aus, wollte vortreten und wäre fast über die Tagesdecke gestolpert. Hätte ihn Jonesy nicht an der Schulter gepackt und ihm Halt gegeben, dann wäre McCarthy wahrscheinlich lang hingeschlagen und hätte den Couchtisch umgerissen, auf dem jetzt das Essen stand. Wieder fiel Jonesy die merkwürdige Unbeholfenheit des Mannes auf - er fühlte sich ein wenig an sich selbst im vergangenen Frühjahr erinnert, als er wieder gehen lernen musste. Er schaute sich den Fleck auf der Wange des Mannes etwas genauer an und wünschte fast, er hätte es gelassen. Das war keine Erfrierung. Es sah eher nach Hautkrebs aus oder wie ein Feuermal, aus dem Haarstoppel wuchsen.
»Hey, immer langsam mit den jungen Pferden«, sagte der Biber und machte einen Satz nach vorn. Er packte McCarthys Hand und schüttelte sie wie wild, bis Jonesy schon dachte, McCarthy würde doch noch auf dem Couchtisch landen. Er war erleichtert, als der Biber - einen Meter siebenundsiebzig groß und immer noch mit schmelzenden Schneeflocken in der schwarzen Hippiemähne - endlich losließ. Der Biber lächelte immer noch, strahlte jetzt übers ganze Gesicht. Mit dem schulterlangen Haar und der dicken Brille sah er aus wie ein Mathegenie oder ein Serienmörder. In Wirklichkeit war er Tischler.
»Rick hat ziemlich was durchgemacht«, sagte Jonesy. »Er hat sich gestern verlaufen und die ganze Nacht im Wald verbracht. «
Biber lächelte weiter, aber jetzt wirkte sein Lächeln eher besorgt. Jonesy ahnte schon, was jetzt kommen würde, und hoffte, der Biber würde es nicht sagen - er schätzte McCarthy als ziemlich religiösen Menschen ein, dem solche Unflätigkeiten nicht behagen würden -, aber wer Biber den Mund verbieten wollte, hätte natürlich auch gleich versuchen können, den Wind zu bändigen.
»Ach du dicke Fotze!«, kreischte er. »Das ist ja unglaublich! Setz dich! Iss was! Du auch, Jonesy.«
»Ach nee«, sagte Jonesy. »Iss du das mal. Du kommst doch gerade aus dem Schnee herein.«
»Meinst du?«
»Ja. Ich mach mir Rührei. Rick kann dir seine Geschichte erzählen.« Vielleicht wirst du daraus ja eher schlau als ich, dachte er.
»Also gut.« Biber zog sich Mantel (rot) und Weste (natürlich orangefarben) aus. Er wollte beides eben auf den Holzhaufen werfen, als ihm etwas einfiel. »Warte mal, ich hab da was für dich.« Er vergrub eine Hand in einer Tasche seiner Daunenjacke, wühlte darin herum und kam schließlich mit einem Taschenbuch zum Vorschein, das zwar ziemlich ver-knickt war, sonst aber unversehrt schien. Vorn auf dem Titel tanzten kleine Teufel mit Dreizacken - Small Vices von Robert B. Parker. Es war der Krimi, den Jonesy auf dem Hochsitz gelesen hatte.
Der Biber hielt ihm das Buch mit einem Lächeln hin. »Deinen Schlafsack habe ich liegen lassen. Ich dachte mir, du kannst heute Nacht sowieso nicht schlafen, wenn du nicht weißt, wer der Mörder war.«
»Du hättest da nicht raufklettern sollen«, sagte Jonesy, war aber so gerührt, wie nur Biber das bei ihm fertig brachte. Der Biber war durch das Schneegestöber heimgekehrt und hatte nicht mit Sicherheit feststellen können, ob Jonesy auf seinem Hochsitz war oder nicht. Er hätte rufen können, aber zu rufen reichte dem Biber nicht, er glaubte nur, was er auch sah.
»Keine Ursache«, sagte Biber und setzte sich zu McCarthy, der ihn anschaute, als wäre er ein bisher unbekanntes, recht exotisches Kleintier.
»Danke«, sagte Jonesy. »So kommst du doch noch zu deinem Sandwich. Ich mache mir Eier.« Er wollte gehen und drehte sich dann noch mal um. »Was ist mit Pete und Henry? Meinst du, die schaffen es zurück?«
Der Biber machte den Mund auf, aber ehe er antworten konnte, blies der Wind wieder unter den Dachvorsprung, ließ es in den Wänden knarzen und pfiff grimmig ums Haus.
»Ach was, das ist nur eine Mütze voll Schnee«, sagte Biber, als die Böe vorbeigezogen war. »Die kommen schon wieder. Aber ob wir hier wegkommen, wenn wir einen richtigen Nordsturm kriegen — das ist natürlich ’ne andere Frage.« Er fing an, das Käsesandwich zu verschlingen. Jonesy ging in die Küche, um sich Rührei zu machen und noch eine Dose Suppe aufzusetzen. Nun, da der Biber da war, war ihm etwas wohler mit McCarthy. Ja, eigentlich war ihm immer wohler, wenn der Biber da war. Schon verrückt. Aber nicht zu leugnen.
Als das Rührei fertig und die Suppe aufgewärmt war, plauderte McCarthy längst mit dem Biber, als wären sie seit zehn Jahren die dicksten Freunde. Falls sich McCarthy an Bibers Litanei größtenteils lustiger Lästerlichkeiten störte, machte Bibers beträchtlicher Charme das mehr als wett. »Da gibt's nichts zu erklären«, hatte Henry mal zu Jonesy gesagt. »Er ist einfach ein Wuschel - man muss ihn einfach mögen. Deshalb ist sein Bett nie leer - es ist bestimmt nicht sein Aussehen, auf das die Frauen anspringen.«
Jonesy brachte das Rührei und die Suppe in den Wohnbe-reich und gab sich dabei Mühe, nicht zu humpeln - es war schon erstaunlich, wie viel mehr ihn der Schmerz in der Huf-te bei schlechtem Wetter plagte, er hatte das immer für ein Ammenmärchen gehalten, aber anscheinend stimmte es -und setzte sich auf einen Sessel neben dem Sofa. McCarthy hatte anscheinend mehr geredet als gegessen. Die Suppe hatte er kaum angerührt, und das Käsesandwich war auch noch zur Hälfte da.
»Wie geht's, Jungs?«, fragte Jonesy. Er pfefferte sein Rührei und verspachtelte es dann mit Feuereifer. Sein Appetit war anscheinend wieder ganz der alte.
»Gut wie frisch gefickten Eichhörnchen geht's uns«, sagte Biber, und obwohl er sich so aufgeräumt wie üblich anhörte, fand Jonesy, dass er besorgt, vielleicht gar beunruhigt aussah. »Rick hat mir von seinen Abenteuern erzählt. Die Geschichte ist so gut, die könnte glatt aus einem dieser Herrenmagazine sein, die es immer beim Friseur gab, als ich noch klein war.« Er wandte sich, immer noch lächelnd, wieder an McCarthy - das war der Biber: immer lächelnd, immer vergnügt - und fuhr sich mit der Hand durch seine schwarze Mähne. »Der alte Castonguay war bei uns in Derry der Friseur, als ich ein kleiner Junge war, und er hat mir mit seiner Schere solche Angst eingejagt, dass ich da nie wieder hingegangen bin.«
McCarthy lächelte kurz matt, erwiderte aber nichts. Er nahm die restliche Hälfte seines Käsesandwichs, betrachtete es und legte es dann wieder auf den Teller. Die rote Stelle auf seiner Wange glühte wie ein Brandzeichen. Währenddessen redete Biber weiter, als fürchtete er, was McCarthy sagen würde, bekäme er auch nur den Hauch einer Gelegenheit dazu. Draußen schneite es jetzt stärker, und auch der Wind hatte aufgefrischt, und Jonesy dachte an Henry und Pete, die wahrscheinlich mittlerweile in Henrys altem Scout auf der Lteep Cut Road unterwegs waren.
»Rick wäre nicht nur mitten in der Nacht fast von einem 1 1er gefressen worden - er glaubt, es war ein Bär -, nein, er at auch noch sein Gewehr verloren. Ein nagelneues Remington Kaliber 30-30. Du Scheiße! Das siehst du nicht wieder, das kannst du vergessen.«
»Ich weiß«, sagte McCarthy. Aus seinen Wangen wich wieder alle Farbe, und sein Teint war wieder bleiern. »Ich weiß nicht mal mehr, wann ich es hingelegt habe oder -«
Plötzlich hörte man ein leises, schnarrendes Geräusch, wie von einer Heuschrecke. Jonesy spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, und dachte, da hätte sich etwas im Kamin verfangen. Dann wurde ihm klar, dass es McCarthy war. Jonesy hatte im Laufe seines Lebens schon einige laute Fürze gehört und auch einige lang gedehnte, so etwas aber noch nie. Es schien gar kein Ende zu nehmen, obwohl es unmöglich länger als ein paar Sekunden angedauert haben konnte. Und dann kam der Gestank.