1. Der Brief mit dem Wappen
Meinen Onkel Stewart Eden sah ich zum erstenmal, als ich zehn Jahre alt war.
Er kam in unser Haus in New London, wo unsere Familie immer gewohnt hatte. Die alte Haushälterin Mrs. Flaherty war die ganze »Familie«, die mir noch geblieben war. Sie hatte mich auf seine Ankunft vorbereitet, doch nicht darauf, wie er aussah.
Ich stand auf der Veranda, als mein Onkel den Gartenweg entlangkam. Er war ein blasser Riese von einem Mann, mit einem bronzefarbenen Bart. Er hinkte ein wenig aufgrund einer alten Verletzung. Seine Stimme klang erstaunlich sanft.
,,Du bist also Jim«, sagte er. Das war alles. Ich glaube, er wußte nicht viel über Zehnjährige. Vielleicht füchtete er, ich könnte in Tränen ausbrechen, wenn er mir den Kopf tätschelte oder die Hand drückte, als ob ich das wirklich getan hätte! Solange ich zurückdenken konnte, stand ich allein da, und ich hatte nur die Haushälterin, sonst niemanden.
Er stellte seine abgenutzte Tasche aus Haileder ab und sah auf die Uhr. Wie charakteristisch diese Bewegung doch war! An diesem Nachmittag mußte er sie schon hundertmal gemacht haben. Und jedesmal runzelte er die Brauen, als rasten für ihn die Stunden viel zu schnell dahin.
»Komm«, forderte er mich mit seiner sanften Stimme auf. Er nahm meinen Arm und führte mich die Stufen hinab.
Ich blieb stehen. »Was ist mit Mrs. Flaherty?« fragte ich unsicher. Die Haushälterin ließ mich nie allein weggehen, seit sie mich in einer selbstgebastelten Taucherglocke am Grund unseres Teiches gefunden hatte und die Feuerwehr rufen mußte, die mich dann befreite.
»Laß Mrs. Flaherty«, antwortete er mit seiner warmen Stimme, in der immer ein kleines Lachen war. »Du bist doch jetzt ein Mann, Jim. Wir Männer haben ein Recht, dann und wann einmal allein wegzugehen.«
Ich folgte ihm mit einem kleinen Zweifel in meinem Herzen, doch dieser Zweifel wurde bald beseitigt. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich nämlich Mrs. Flaherty, wie sie hinter einer Gardine herausspähte. Ich sah sie lächeln, aber sie betupfte sich die Augen. Arme Mrs. Flaherty! Sie war dem Andenken meiner Mutter viel zu treu und hatte nie versucht, deren Platz in meinem Herzen einzunehmen, aber sie konnte nicht anders, sie sah in mir doch ihren Sohn.
Mein Onkel fuhr mit mir in der Einschienenbahn zur Küste. Sehnsüchtig schaute ich zum Vergnügungspark hinüber, als wir vorbeifuhren, doch mein Onkel schüttelte den Kopf. »Nein, Jim«, meinte er und lachte wieder. »Karussells sind nichts für Männer. Und heute mußt du ein Mann sein. Du und ich, wir beide gehen uns etwas ansehen, das du vorher noch nie gesehen hast.«
Recht hatte er. Denn an diesem Nachmittag zeigte mir mein Onkel die See.
Etwas, das ich vorher noch nie gesehen hatte?
Ja. Natürlich sah ich jeden Morgen, wenn ich aus dem Fenster schaute, die weißen Schaumkronen der Brecher oder die schiefergraue Linie der Wetterwolken vor dem Horizont. Und dabei hatten mein Vater und ich zahllose Stunden in kleinen Segelbooten verbracht.
An diesem Nachmittag zeigte mir mein Onkel Stewart Eden die See so, wie sie wirklich war. Wir saßen auf einer Landebrücke und sahen den Möwen zu. Schlanke Unterwasserfrachter schlüpften durch das Wasser weit hinaus, und unter uns brachen sich die Wellen. Er redete. Viele seltsame und wundervolle Dinge erzählte er mir. Er zeigte mir, warum die See sein ganzes Leben war und wie ich sie zu dem meinen machen könnte.
Und die riesige See selbst zeigte er mir auch, die ungeheuren, verschlungenen Weiten und Tiefen, die Gipfel, die Städte und die unbekannten Kelp-Dschungel. Mein Onkel war ein sehr hingebungsvoller Mann. Sein Leben gehörte den Gebieten unter der Wasseroberfläche, und an diesem Nachmittag, als wir an der felsigen Küste von Connecticut saßen, begann ich den Grund dafür zu verstehen.
Die Sonne stand tief hinter uns. Mein Onkel hörte zu reden auf; nicht deshalb, weil er nichts mehr zu sagen gehabt hätte, oder weil mir die Lust zum Zuhören vergangen gewesen wäre, sondern es war ganz einfach unmöglich, eine umfassende Geschichte der See zu erzählen. Jeder Mensch mußte so etwas ganz allein für sich selbst entdecken. Die See mußte man erleben, und selbst dann konnte man nie sicher sein, daß man auch die richtigen Worte für sie fände.
Fast besorgt schaute er wieder einmal auf die Uhr und seufzte. Dann legte er mir die Hand auf die Schulter.
»Das ist eine ganze Welt, Jim«, sagte er. »Und ich muß jetzt zu ihr zurückkehren. Ich wollte, ich könnte mehr Zeit mit dir verbringen, dich ein wenig besser kennenlernen. Aber ich muß heute abend wieder weg.«
Ich richtete mich so hoch auf und hielt mich so gerade wie ich konnte. »Onkel Stewart«, sagte ich mit krampfhaft tiefer Stimme, »nimm mich mit, bitte.«
Er lächelte mich nicht an, er tätschelte mir auch nicht den Kopf. Geduldig antwortete er mir: »Nein, Jim. Glaub mir, ich würde es tun, wenn es möglich wäre. Aber dir gegenüber wäre es wirklich keine Freundlichkeit. In den Städten unter der See ist das Leben hart, Jim. Für dich ist dort kein Platz. Noch nicht. Du mußt noch ein halbes Dutzend Jahre zur Schule gehen, ehe du überhaupt daran denken darfst.«
Sein Griff um meine Schulter verstärkte sich. »Aber die Zeit wird vorübergehen, Jim. Nein, nicht schnell; darüber will ich dir nichts vormachen. Es ist schwierig, zu studieren, auf die Lehrer aufzupassen und deine Bücher zu lesen, wenn dort unten die Städte in der See funkeln und auf dich warten. Es gibt Dinge im Leben, Jim, die sehr schwierig sind, aber getan werden müssen sie. Dein Vater . . .«
Er machte eine Pause und schaute weg von mir, doch dann fuhr er ruhig fort: »Dein Vater war ein feiner Mann, Jim. Wären da nicht ein schlechter Mensch und eine Pechsträhne gewesen, dann stünde er heute an meiner Stelle hier.« Er schüttelte den Kopf. ,,Aber es ist nicht recht, jemanden zu hassen, Jim.« Diesmal war das kleine Lachen aus seiner weichen Stimme verschwunden. »Aber manche Menschen sind so, daß man der Versuchung, sie zu hassen, fast nicht widerstehen kann.«
»Du meinst Mr. Hallam Sperry?« fragte ich.
»Ich meine Hallam Sperry. Alles, was dein Vater war und was er tat, das war gut, Jim. Er vor allen anderen machte Mari-nia zu einer Weltmacht. Riesenstädte unter dem Wasser! Und dein Vater hat mitgeholfen, sie zu bauen. Und dann starb er. Hallam Sperry trat an seine Stelle.« Düster schaute er über das Wasser hinaus. Dann schüttelte er wieder den Kopf und lächelte. »Zeit genug, Jim«, sagte er. »Aber dein Vater hat sich nie vor einer Verpflichtung oder einer Arbeit gedrückt, und du wirst es auch nicht tun, denn du bist der richtige Sohn deines Vaters, was, Junge? Du gehst also wieder in deine Schule zurück, machst deine Aufgaben, lernst deine Lektionen und wirst ein Mann. Sechs Jahre, Jim. Und nach diesen sechs Jahren, Jim, ist die Schule noch lange nicht vorüber. Da geht sie erst noch einmal an. Aber dann . . .« In seiner Stimme war jetzt wieder das tiefe, kehlige Lachen. »Dann, Junge, wird die Schule aber ein wenig anders sein.«
»Wie anders?« wollte ich wissen, denn ich verstand nicht ganz, was mir dieser Fremde, der mein Onkel war, sagen wollte, doch seine Worte erregten mich auf sonderbare Art und machten mich glücklich.
»Oh, ganz anders.« Jetzt lachte er mich an, und sein Lachen ließ mich meine Enttäuschung vergessen. »Verstehst du, Jim, die Leute erinnern sich deines Vaters, und ich selbst habe ja auch ein paar Freunde. Ich lasse dich nicht warten. Wenn die See für dich das Leben bedeutet, dann gehört sie dir.«
Er griff in seine Tasche. Wie ein König, der einem Edelmann ein wertvolles Schwert überreicht, so gab er mir einen marineblauen Umschlag mit einem funkelnden Platinwappen. »Mach ihn nur auf, Jim, er gehört dir«, sagte er.
Das Papier im Umschlag war steif und doch ein wenig knittrig in meiner Hand. Unter dem Wappen stand TiefseeAkademie der Vereinigten Staaten. Darunter war in der hellen, scharlachroten Farbe aller offiziellen Tiefsee-Schriften eine kurze an mich gerichtete Mitteilung zu lesen: