Ich sah nichts und hörte nichts. Es roch nach Keller, abgestanden und muffig. Wo in Thetis konnte ein solcher Raum sein?
Da ich es nicht ahnte, gab ich meine Vermutungen auf. So kühl und leidenschaftslos wie nur möglich versuchte ich meine Lage abzuschätzen. Panische Angst, hatte man uns beigebracht, sei der allerschlimmste Feind, und überläßt man sich ihr, kann sich eine böse Lage nur verschlimmern.
Und im Sonnenschein der Karibik hatte alles so harmlos geklungen!
Genau hatten sie uns allerdings nie gesagt, was man tun sollte, wenn man von unbekannten Personen gefesselt und in einem unbekannten Raum festgehalten wurde. Mir erschien alles im Moment lächerlich. Ich hatte doch keinem Menschen etwas getan. Warum war ich also angegriffen worden?
Die wichtigste Frage war im Augenblick jedoch nicht das Warum, sondern das Wie: wie ich aus dieser Lage wieder herauskommen konnte. Ich schien da wenig tun zu können. Wer mich gefesselt hatte, der hatte vorher von einem Meister in dieser Kunst Unterricht erhalten.
Einen Arm konnte ich eine Kleinigkeit bewegen. Und fände ich etwas, um die Schnüre daran zu wetzen, so wäre es denkbar, daß ich sie ausfransen konnte. Es war natürlich, gefesselt wie ich war, gar nicht so einfach, in dieser Finsternis etwas zu finden, doch ich machte den Versuch.
Es war umsonst. Der Boden war eben und nackt. Und die Knoten konnte ich nicht erreichen.
Vielleicht überließ ich mich in diesem Moment ein wenig der Verzweiflung, ich weiß es nicht, aber ich warf mich heftig herum — und spürte, daß die Schnur um meine Taille ein wenig nachgab.
Nun war meine rechte Hand ein wenig hinter mir, die linke vor mir. Wieder zerrte ich an der Schnur, wieder gab sie eine Spur nach.
Vermutlich brauchte ich dazu mindestens eine halbe Stunde, aber schließlich hatte ich die linke Hand an meiner Gürtelschließe. Und den Seegeistern sei Dank, ich trug meinen Akademiegürtel mit den scharfen Ankern an der Schnalle.
Es war die beste Hoffnung, die ich hatte, und nun sägte ich die Schnüre an den scharfen Ankern praktisch durch. Ich dachte schon, mir würden die Arme abbrechen, aber nun hatte ich doch wieder Hoffnung, mich nach einiger Zeit befreien zu können.
Doch genau da lief meine Zeit ab. Hinter mir hörte ich ein leises Klicken, ein schwaches Licht drang in den Raum. Ich sah nur das, was direkt vor meinen Augen war — glatte Metallwände, an denen ein dünner Film Feuchtigkeit hing, nichts sonst. Aber jemand hatte hinter mir eine Tür geöffnet.
Ich blieb bewegungslos liegen. Leise Schritte. Pause. Dann zogen sich die Schritte wieder zurück. Die Tür klickte. Dann Finsternis. Jemand war also gekommen, hatte nach mir geschaut und war wieder gegangen. Was dies zu bedeuten hatte, wußte ich nicht, aber vielleicht hatte man nachgesehen, ob ich schon bei Bewußtsein war. Hoffentlich hatte ich denjenigen getäuscht.
Ich rieb erneut, aber nur ganz kurze Zeit, denn die Tür ging wieder auf, doch die Schritte waren diesmal nicht leise.
Hinter mir waren etliche Männer, und sie sprachen miteinander, ohne die Stimmen zu verstellen.
»Klar, er ist wach«, sagte einer der Männer. »Jack, gib ihm einen Tritt, dann siehst du's schon.«
Das tat Jack, und er trat mich an das rechte Schulterblatt. Zum Glück wurde mir kein Knochen gebrochen, aber mir hatte es auch so gereicht, denn ich flog ein ganzes Stück weit und kam auf die andere Seite zu liegen, so daß ich die Männer anschaute.
Der Mann, der mich getreten hatte, war ein breiter Kerl mit einem Gesicht wie eine Kröte. Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen. Auch den zweiten nicht, doch den dritten kannte ich. Es war Kelly, der in der Kneipe der neunten Ebene mit mir hatte raufen wollen.
»Was soll das alles?« fragte ich angestrengt durch einen Nebel des Schmerzes. »Was ...«
»Maul halten«, fauchte Kelly mich an. »Jack, wenn er seine Klappe wieder aufmacht, trittst du ihm die Zähne ein. Komm, hilf mir.«
Kelly trat zurück und schaute ausdruckslos drein, als Jack und der andere Mann mich aufhoben und aus dem Raum hinaustrugen, einen schwach erhellten Korridor entlang.
»Kelly, das gefällt mir gar nicht«, sagte der Mann zu meinen Füßen. »Angenommen, die Seecops kommen vorbei?«
»Angenommen, der Mond fällt auf uns?« höhnte Kelly. »Du wirst nicht fürs Denken bezahlt. Jack hat sich nach den Cops umgesehen. Er sagt, auf der ganzen Ebene war nicht ein einziger Patrouillenjeep zu sehen.«
»Richtig«, gab Jack zu. Dieser Jack machte nicht viel Worte. Ich tat den Mund auf, um etwas zu sagen, aber das plötzlich in seinen Augen aufflammende Interesse gab mir zu denken. Sie schleppten mich noch ein Stück weiter, dann ließen sie mich fallen.
»Okay«, knurrte Kelly. »Haut ab. Ich brauch' euch nicht mehr.«
Die beiden verschwanden eiligst. Kelly kam näher und bückte sich neben mir, fummelte auch auf dem Boden herum, und ich hörte etwas laut klirren, konnte aber nichts sehen.
»Na, gute Reise«, sagte er grinsend. Kalte, feuchte Luft schlug mir entgegen. Kelly hob den Fuß, um nach mir zu stoßen, und da wurde mir klar, was er getan hatte. Er hatte eine Falltür geöffnet, und unter ihr lagen die Abwässertunnel von Thetis!
Als sein Fuß herabkam, warf ich mich in meiner Verzweiflung herum, und die Schnur, die um mein linkes Handgelenk gelegen hatte, riß. Es war aber zu spät. Sein Fuß traf mich schmerzhaft in die Seite und warf mich über den Metallrand. Ich fing mich zwar, doch eine taube Hand reichte nicht zum Festhalten.
Ich stürzte in das eisige, schnellfließende Wasser. Einen Augenblick lähmte mich die Kälte, und ich sank tief hinab. Doch dann arbeitete ich mich wieder in die Höhe. Irgendwie kam ich an die Oberfläche, schwamm, hustete und keuchte und bekam kalte, feuchte Luft in meine Lungen, als ich mit einiger Geschwindigkeit von der Flut mitgerissen wurde.
Fast hätte ich nun aufgegeben, aber etwas in mir ließ das nicht zu. Jedenfalls strampelte und schwamm ich, so gut ich konnte, denn ich wollte wenigstens solange am Leben bleiben, bis ich zu den Ventilatorpumpen kam.
Dort würde mein Leben sowieso zu Ende sein, denn dem Druck dieser mächtigen Pumpen konnte ich doch nicht widerstehen.
Trotzdem kämpfte ich weiter.
Da sah ich ein Licht. Es war sehr schwach, sehr weit entfernt, und ich sah es durch den Salzwasserschleier. Ich blinzelte, schaute wieder — es kam näher. Es war ein schwaches Flakkern auf einer Rampe neben dem Abwässerstrom.
Es war ein tragbares Troyon-Licht, daneben ein Mann, der ins Wasser schaute.
Ich versuchte zu rufen, doch ich brachte nur ein Gurgeln heraus. Vielleicht hatte er mich gehört. Vielleicht war es auch nur Zufall, daß er in die Richtung schaute, in der ich kämpfte. Aber ich hörte seinen Schrei, und ich fand sogar den Atem, ihm eine gehustete Antwort zu geben.
Er handelte blitzschnell. Kaum hatte er mich gesehen, da wurde ich schon an die Rampe getrieben, auf der er stand. Einen Moment später wäre ich nicht mehr zu retten gewesen. Aber als ich an ihm vorbeischwamm, griff er mit einer langen Stange nach mir.
Etwas Scharfes hakte sich in meine Schulter. Die Haut riß auf, und der Bootshaken glitt über meinen Rücken und den Oberarm. Meine Jacke riß auf, noch ein Stück — und hielt.
Er half mir auf die Rampe hinauf und stellte mich auf die Beine. Keuchend lehnte ich an der Wand. Er grinste mich an.
»Mensch«, sagte er, »du hast dich wohl sehr nach einem kalten Bad gesehnt. ..«
13. Der Eremit von Kelly's Königreich
»Danke«, sagte ich dafür, daß er mir das Leben gerettet und das seine dabei riskiert hatte. Wäre er ausgeglitten und in das rasende Wasser gestürzt, hätten wir beide nicht überlebt. Ich konnte im Moment nichts anderes sagen als »danke«.