»Aber Gideon, ein Mann wie Hallam Sperry braucht so etwas doch gar nicht zu tun! Er ist doch reich und mächtig, ist der Bürgermeister von Marinia, hat Schifffahrtslinien und TiefseeMinen und sonst noch jede Menge Eigentum.«
»Warum?« Gideon spitzte die Lippen. »Ich weiß nicht, ob ich dir das richtig sagen kann, Jim. Du mußt in Hallam Sperrys Geist hineinschauen, um die Antwort zu erfahren. Macht ist eine Krankheit. Je mehr du hast, desto kränker bist du. Und Hallam Sperry ist so krank, daß es nicht mehr schlimmer kommen kann. Marinia? Jim, Marinia ist zu klein für ihn!«
»Aber. . .«
»Aber nichts, Jim.« Er stand auf und kramte in den Spalten der Wand nach Decken, die er sauber gefaltet aufgeräumt hatte. »Ich weiß nicht, ob du's bemerkt hast, aber es ist ziemlich spät, und wir haben einen harten Tag hinter uns. Wir wollen jetzt lieber schlafen. Vielleicht können wir am Morgen ein paar Antworten finden.«
Ich schlief zwar, aber sehr schwer und unruhig und von wilden Träumen gequält. Als ich aufwachte, war Gideon nicht da.
Ich suchte die Rampe nach beiden Seiten hin ein ganzes Stück ab und fand ihn nicht. Es waren schlimme zwanzig Minuten. Dann hörte ich, daß sich vorsichtige Schritte näherten. Ich verdrückte mich in eine Spalte, bis der Mann, der da kam, zu sehen war. Und es war Gideon.
Er lachte mich an. »So früh schon auf, Jim?« begrüßte er mich. »Ich dachte, du würdest mindestens noch eine Stunde schlafen.«
»Wo warst du?« fragte ich. »Ich dachte schon ...«
»Du dachtest, der alte Hallam Sperry hätte mich weggeholt, was? Ich hatte nur ein kleines Geschäft zu erledigen, das ist alles.« Er nahm einen Rucksack ab. »Hier, da ist Frühstück. Wir kochen jetzt und essen, dann besuchen wir einen Freund von mir. Vielleicht hat er ein paar Informationen für uns.«
Wir aßen ziemlich schnell, aber dann bestand Gideon darauf, noch etwas auszuruhen. »Vertrau dem alten Gideon«, sagte er. »Ich habe einen Freund da draußen, der inzwischen Informationen ausgräbt. Man muß ihm ein bißchen Zeit lassen. Hier sind wir außerdem sicherer als sonst irgendwo. Und behaglicher haben wir's auch.«
Behaglicher — damit hatte er sicher recht. Als Gideon endlich meinte, es sei an der Zeit, führte er mich durch Nebenwege und Tunnels, wie ich sie mir nicht einmal im Traum vorgestellt hätte, zu Vierteln von Thetis, von denen ich nichts ahnte. Wir kamen heraus in einer breiten, hohen Kammer, wo der Boden mit einer grünlichen, schleimigen Flüssigkeit bedeckt war und die Luft nach Seetang und lodinen roch. Gideon blieb am Eingang stehen.
»Weißt du, Jim, wofür in Thetis ein solcher Raum gut ist?« fragte er. »Hier, die Antwort liegt vor deinen Augen.«
Über den ganzen Boden waren Ballen von nassem Kelp und anderen Seegewächsen aufgestapelt, durchwegs auf niederen Regalen, nur eine Handbreite über dem Boden. Aus diesen Pflanzenballen tröpfelte grünlicher Saft, und daher stammte die Nässe. »Das hier ist nämlich die Ablaufkammer. Was in den Farmen draußen geerntet wird, kommt hier herein. Da wird es gestapelt, damit die Flüssigkeit abläuft, dann wird es in Ballen gepreßt und kommt zum Weiterverarbeiten.«
»Das riecht aber ziemlich kräftig.«
Gideon lachte. »Versuch mal, ein paar Minuten lang den Geruch auszuhalten. Ich bin gleich wieder da.«
Da stand ich nun, und er ging vorsichtig durch die weite Kammer, bis er meinen Blicken entschwand. Niemand sonst war in der Nähe. Ich hörte ferne Stimmen, aber dieser Ablaufraum brauchte anscheinend keine oder wenig Aufsicht.
Lange brauchte ich nicht zu warten, dann kam Gideon. Er keuchte. »Komm, Jim. Wir müssen hier 'raus! Sperry hat die ganze Stadt auf uns gehetzt, wir müssen ganz schnell weg!«
Fast ohne zu denken, folgte ich ihm den Weg zurück, den wir gekommen waren, wieder durch die schmalen Tunnels, in denen sich Gideon so gut auskannte. Unterwegs berichtete er mir: »Ich hab' einen Freund von mir gebeten, er soll sich mal umhören, was da vorgeht. Jim, es gibt Ärger! Sperrys ganze Polizei ist hinter uns drein. Bei Sicht schießen, ist der Befehl.«
»Aber das kann er doch nicht!«
»Jim, er kann alles tun. Er ist der Bürgermeister, das Gesetz in Thetis. Wir müssen sofort von hier verschwinden.«
»Aber wohin können wir gehen?«
»Da ist doch der Ozean, Junge! Wohin denn sonst? Wohin würde dein Onkel gehen, wenn er in Schwierigkeiten wäre? Doch in die Tiefen!«
»Aber, Gideon, wir können zu den Behörden gehen und alles erklären. Sperry kann doch nicht einfach Gesetze umkehren!«
»Versuchen kann er's jedenfalls«, erklärte Gideon noch immer keuchend. »Verstehst du nicht, Junge? Sperry ist hier in Thetis das Gesetz. Wir müssen uns früher oder später gegen ihn stellen, ganz gewiß, aber nicht jetzt und nicht so. Unser Wort steht gegen das seine. Man würde uns vor Gericht nur auslachen. Und vergiß nicht, du hast nicht mal einen Paß! In der Minute, da du in eine Polizeiwache gehst, bist du auch schon verhaftet — falls du solange lebst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Was nützt es uns denn, wenn wir wegzukommen versuchen? Wir kommen zur Gangway von Sperrys Linienschiffen und dann . . .«
Gideon grinste. »Wer hat was von Linienschiffen gesagt? Na, komm schon mit.«
Er ging voran, ich folgte zögernd. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Zweimal versteckten wir uns in Seitengängen als wir in der Ferne die scharlachroten Polizeiuniformen sahen.
Endlich kamen wir zu einem trostlosen Gewirr schmutziger Tunnels, wo das subsonische Pochen mächtiger Maschinen sich zu lautem Dröhnen vereinte. Es war die Hauptpumpstation für die Abwässer von Thetis.
»Jetzt leise«, warnte Gideon. »Wir müssen jetzt ein paar Gesetze brechen.«
Er ging voran durch einen engen Tunnel in eine Kammer, die von einer einzigen flackernden Troyon-Röhre erhellt war. Ein ältlicher Mann saß da und schien zu schlafen; der Kopf fiel ihm immer auf die Brust. Der ganze Raum hatte an den Wänden viele Taucherausrüstungen. Wir blieben kurz am Eingang stehen. Gideon war leise wie ein herumwandernder Geist, als er den alten Mann nachdenklich musterte. Er schüttelte den Kopf und zog mich in den Tunnel hinaus.
»Das Risiko ist zu groß«, flüsterte er. »Der Wachmann hätte in zwei Minuten die Polizei da. Wir müssen den anderen Port versuchen.«
»Und was tun wir dann?«
»Einen Druckanzug stehlen, Jim. Was hast du gedacht? Wir gehen in den Ozean hinaus.«
»Gideon, das ist Wahnsinn«, wandte ich ein. »Wohin können wir gehen? In einem Druckanzug kommen wir nicht zu einer anderen Stadt. Man würde uns ja doch nur erwischen. Komm, wir gehen nach oben zurück . . .«
»Und stellen uns Sperry zur Verfügung, was? Jim, manchmal wundere ich mich wirklich, was man euch auf dieser Akademie beigebracht hat. Überlaß es mir, Jim. Wir holen uns ein paar Anzüge, dann schleichen wir zum Farmgürtel hinaus. Dort können wir uns vielleicht einen Seewagen ausborgen. Wenn, dann gehen wir nach Seven Dome. Du brauchst dir nicht den Kopf zu zerbrechen, daß wir dort aufgepickt werden könnten. Das Risiko gehen wir ein. Alles klar? Also jetzt — Anzüge fassen. Hier mit diesem Wächter können wir sie nicht kriegen.
Wir müssen es am anderen Port versuchen.«
Ich überlegte. »Na, gut«, gab ich schließlich nach. »Du mußt es am besten wissen. Warum können wir den Wachmann nicht einfach ein bißchen verschnüren? Er ist allein, wir sind zwei. Wir können . . .«
Gideon schaute mich entgeistert an. »Das ist die Hauptpumpstation, Jim. Was dann, wenn etwas zusammenbricht, wenn wir weg sind, und der Wachmann ist gefesselt? Thetis würde sofort ertrinken, Junge. Schau mal, tu mir einen Gefallen. Hör zu denken auf. Komm nur mit!«
Ich kam mit.
Zugeben mußte ich dann, daß es doch irgendwie zu laufen schien. Der andere Port war im Moment nicht besetzt, vermutlich machte der Wachmann gerade eine Runde. Wir fanden ein paar Edenit-Druckanzüge, die uns paßten, untersuchten sie schnell und schlüpften durch die Ausgangsschleuse, die wir hinter uns wieder versiegelten.