Ich setzte schon dazu an, zu sagen: Ja, Sir, aber ich schloß eiligst meinen Mund wieder. Er hatte mir noch nicht die Erlaubnis zum Sprechen erteilt. Ich lernte also schon die Regeln.
Aber leider nicht schnell genug. Fast geistesabwesend starrte er meine Kinnlade an.
»Gesichtszuckungen«, stellte er scheinbar ganz versunken fest. »Diese Person ist auch körperlich unternormal, wie mir scheint, auch seelisch, geistig, gefühlsmäßig, moralisch und in jeder anderen denkbaren Weise.« Er seufzte schwer. »Nun, genug davon. Mister Landratte, es ist weitgehend bekannt, daß es absolute Konzentration erfordert, schwierige Regeln zu lernen, ganz besonders dann, wenn sie aus vierundvierzig Worten bestehen. Um dir zu helfen, erlaube ich dir, fünfzehn Touren um dieses Hofviereck zu laufen. Das wird dir guttun. Mit einer Bestrafung hat das absolut nichts zu tun, sondern es soll dir nur zur Konzentration verhelfen.«
Er nickte mit einem Ausdruck kalter Befriedigung. »Jedoch ist auch die Frage der Bestrafung zu überlegen. Ein Benehmen, das für einen Seekadetten unpassend ist, um genau zu sein, das Herumtrampeln auf einem Oberklassenmann, erfordert fünf zusätzliche Touren um das Viereck. Und für leichtfertige Vernichtung von Regierungseigentum ...« — seine Augen hingen an dem zerbrochenen Mützenschild — »noch weitere zehn Runden. Du hast jetzt genug von meiner kostbaren Zeit beansprucht, Mister Landratte, also fang freundlicherweise sofort damit an. Die Gezeiten warten nicht!«
Ohne ein weiteres Wort an mich zu verschwenden, machte er kehrt und stieg die Stufen hinauf.
Das war also meine Einführung in die Tiefsee-Akademie.
Dreißigmal um das ganze Viereck herum mit hundert Metern pro Seite, das sind insgesamt mehr als sieben Meilen.
Ich schaffte sie. Dafür brauchte ich etwas mehr als drei Stunden, und die letzten paar Runden drehte ich in einem dem Koma ähnlichen Zustand.
Endlich war es vorüber.
Ich holte mein verstreutes Zeug zusammen. Etliche Dutzend Kadetten waren die Treppe hinaufgestiegen, während ich die Runden drehte, aber keiner hatte die Sachen auch nur angeschaut. Und dann fand ich auch noch den Weg in meinen Schlafsaal.
»Du mußt Eden sein«, sagte ein kleiner, erstaunlich jung aussehender Bursche, der strammgestanden hatte, als ich die Tür öffnete. Doch als er mich gesehen hatte, tat er gleich gemütlicher und streckte mir die Hand entgegen. »Ich heiße Eskow. Pech. Ich sah dich da draußen.«
Er grinste. Es war ein offenes, breites Grinsen, das mir gefiel. »Ich glaube, du hast jetzt schon einen großen Vorsprung vor uns«, fuhr er fort. »Aber der letzte bist du darin nicht. Früher oder später werden wir alle einmal draußen sein.«
Ich murmelte etwas, warf mein ganzes Zeug auf das Feldbett und besah mir das unordentliche Bild; ein ungemachtes Bett mit Kleidern, Büchern, Ausrüstungsgegenständen in einem Haufen darauf — nun, einladend sah das gewiß nicht aus und war ebenso zerrupft und ungepflegt wie ich.
Eskows Bett sah ganz anders aus. Es war ordentlich gemacht, eine Extradecke war straff über das Kissen gespannt; die Truhe am Fußende stand offen, und auch darin war alles in schönster Ordnung. Eskow selbst hatte rosa Wangen vom Bad und der Rasur, obwohl er, wie ich vermutete, auf das Rasieren noch eine Weile hätte verzichten können, bevor man an ihm einen Bartanflug bemerkt hätte.
Meine Gefühle mußten, alles in allem, deutlich zu erkennen gewesen sein.
»Nimm's nicht zu tragisch«, riet mir Eskow. »Ich helfe dir. Bis zum Abendessen haben wir sowieso nichts zu tun, und erst danach gibt es eine Inspektion. Hol mal tief Atem.«
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen, während Eskow geschickt alles sortierte und meine Sachen einräumte.
Wenige Minuten später fühlte ich mich schon wohler und stand auf, um ihm zu helfen. Es würde wohl sehr lange dauern, bis sich meine Füße wieder normal anfühlten, doch trotzdem schien mir, ich hätte an diesem Tag nicht allzu großes Pech gehabt. Wenn Eskow für die nächsten vier Jahre mein Zimmerkamerad sein würde, so konnte ich mich, nach dem ersten Blick zu urteilen, recht glücklich schätzen.
Beim Abendessen sah ich diesen Oberklassenmann wieder. Er hatte am Ende der Speisehalle einen kleinen Tisch für sich selbst. Ich stieß Eskow an und deutete unauffällig hinüber.
Aus dem Mundwinkel heraus wisperte mir Eskow zu — Kadetten des ersten Jahres hatten keine Erlaubnis, sich bei Tisch zu unterhalten: »Heißt Sperry. Tut mir leid, Jim, aber der ist unser unmittelbarer Vorgesetzter, der Exec. Von dem wirst du eine Menge zu sehen kriegen, bis er selbst seine Abschlußprüfungen hinter sich hat . . . Sperry«, wiederholte er und sah starr vor sich hin, »ich überlegte mir, ob er . . .«
Einer der anderen Oberklassenmänner schaute zu uns her, so daß Eskow mir nicht mehr sagen konnte, was er überlegte.
Ich wußte es sowieso. Und die Antwort hieß ja. Executive-Cadet Officer Brand Sperry, diensthabender Kadett der Fletcher Hall, war der Sohn von Hallam Sperry, dem millionenschweren Bürgermeister von Thetis in Marinia.
Schon damals war mir etwas im Gesicht des jungen Sperry bekannt erschienen und, so seltsam es klingen mag, gefährlich. Ich wußte nur nicht recht, wo ich alles einordnen sollte.
Jetzt wußte ich's. Ich hatte Hallam Sperrys Bild sehr oft gesehen, und der Kadett an dem kleinen Tisch sah nun genau so aus wie Hallam Sperry, als dessen Fotos gemacht worden waren; ein Bild des älteren Sperry, meines Vaters und meines Onkels Stewart, und es stammte aus der Zeit, da Marinia nur aus einigen winzigen Tiefsee-Außenposten bestand. Alle drei Männer waren jung gewesen, und erst sehr viel später hatte ein erbitterter Kampf Sperry von den Edens getrennt.
Lange bevor mein Vater gestorben war, glänzte sein Name noch vor Berühmtheit, doch sein Vermögen und seine Besitztümer waren dahin.
Ich hob meine Gabel an die Lippen in der ruckhaften von der Akademie als passend anerkannten Art. Die Tradition des alten Annapolis und des noch älteren West Point und der Air Academy Colorado ergab einen Reichtum militärischen Erbes und vieler Regeln, die eine Landratte in den ersten Akademietagen ehrlich erschrecken konnten. Und das war ein Grund dafür, daß ich danach kaum wußte, was ich gegessen hatte.
Wenn der Sohn des Mannes, der meinen Vater betrogen und dasselbe bei meinem Onkel versucht hatte, mein Commander sein sollte, so hatte ich eine harte Zeit in der Tiefsee-Akademie vor mir. Ganz gewiß hatte ich einen schlechten Start gehabt, und das erste Zusammentreffen war eigentlich entmutigend gewesen. Es hätte sein können, daß er mich erkannt und ab-sichtlich diese Schau abgezogen hatte, um mir klarzumachen, daß er mich unter dem Daumen hatte ...
Nein, das konnte ich doch nicht recht glauben. Was immer auch Brand Sperry s Vater gewesen war und noch war, der Sohn war ein Kadetten-Offizier im Tiefsee-Dienst, und solange wir beide diesem Dienst angehörten, würde ich niemals einen Streit provozieren. Das versprach ich mir auf der Stelle.
3. Söhne der Tiefsee-Flotte
Um 4.45 Uhr morgens war Wecken. Die Sterne standen noch am Himmel.
Wir waren dreihundert, fröstelten im ersten Dämmerlicht und standen stramm. Wir versuchten es wenigstens. Auf den heiligen Gründen der Tiefsee-Akademie müssen wir einen kuriosen Anblick geboten haben. Cadet Captain Sperry kann ich daher seine angewiderte Miene nicht einmal übelnehmen.