Dazu kamen die vielen ärgerlichen Einzelheiten über die akademische Disziplin, die man jede Minute des Tages im Kopf haben mußte, sogar im Schlaf, wenn irgend möglich. Es gab nie eine Sekunde, solange wir uns auf dem Gelände der Akademie befanden, da wir nicht Gefahr liefen, uns unvermittelt einem Offizier gegenüber zu sehen, oder auch einem Oberklassenmann, dem eine Kehrtwendung nicht zackig und exakt genug war. Im ersten Jahr hatten wir drei Stunden wöchentlich Ausgang, falls wir nicht für irgendein winziges Vergehen Stubenarrest hatten. Wir gingen niemals irgendwohin, wir marschierten, auch wenn wir Ausgang hatten. Wir lehnten uns nie und nirgends zurück, um uns einmal für ein paar Minuten zu entspannen, nicht einmal auf unseren Buden; wir saßen stramm. All dies lernten wir auf die harte Art in den langen Stunden der Hofrunden. Manchmal waren auf einmal hundert oder mehr von uns draußen. Aber wir lernten Disziplin, und wir vergaßen sie nie.
Das traf zu für dreiundzwanzig Stunden und dreißig Minuten täglich; aber wir hatten ja eine halbe Stunde vor dem Abendessen, wenn wir nicht gerade Runden zu drehen oder für eine Prüfung zu büffeln hatten. Da konnten wir dann auf dem Gelände herumlaufen, wie wir wollten. Diese halbe Stunde und drei Stunden Freiheit am Samstag und ein paar Minuten zwischen Frühgottesdienst und Mittagessen am Sonntag — mehr Freizeit hatten wir nicht. Und meistens wurde sie von irgendeiner Extrapflicht aufgefressen.
Das, was noch blieb, war's wert.
Die Tiefsee-Akademie ist eine sehr junge Einrichtung, verglichen mit Annapolis, aus dem sie entstand, oder dem noch viel älteren West Point. Trotzdem hat die Akademie schon eine Geschichte, und sie ist vor allem der Stolz des Service; das ganze Gelände ist angefüllt mit Museumsstücken der TiefseeFlotte.
Eskow war, um nur ein Beispiel zu nennen, geradezu fasziniert von der alten SSN-571, der Nautilus, dem ersten atomgetriebenen Unterseekreuzer. Sooft er nur konnte, zerrte er mich dorthin, und wir verbrachten Stunden unserer kurzen Freizeit damit, durch die engen Korridore und Kammern zu wandern. Dieser Rumpf lag in der sanften karibischen Dünung, und doch war es kaum zu fassen, daß diese Blechdose einmal der Stolz der Navy gewesen war; wenn man sie mit unseren modernen Tiefsee-Korvetten vergleicht, war sie erbarmenswert klein und schwach. Natürlich hatten ihre Konstrukteure alles getan, was ihnen mit ihrem Stahl möglich war, um den Rumpf so stark zu machen, wie es ging, aber sie hatten ja zur Zeit der Kiellegung der Nautilus noch nicht ahnen können, daß mein Onkel den dünnen Edenit-Film entwickeln würde, der den Wasserdruck in sich selbst zurückzwang. Dadurch erhielt die Hülle eine ungeahnte Festigkeit, die es erst möglich machte, daß ein solches Tiefsee-Schiff sich vier Meilen unter die Oberfläche des Ozeans begeben konnte.
Mein eigener Lieblingsplatz war Dixon Hall. Hier in dieser kleinen Halle war die ganze Geschichte des Tiefsee-Service zusammengefaßt, angefangen von den Diagrammen der sinkenden New Ironsides in den blutigen Oktobertagen des Bürgerkriegs, die erste Unterwasseraktion der Marinegeschichte überhaupt, bis zur Ehrenrolle der Graduierten der Akademie, die ihr Leben im Service verloren hatten. Eine ganze Wand war mit einer Weltkarte in der Mercator-Projektion bedeckt; das war eine ganz merkwürdige Karte, denn die Kontinente waren schwarz ausgespart, nur die Flüsse waren weiß eingezeichnet, und ein paar Riesenstädte waren skizziert. Die Ozeanböden waren hier jedoch in allen, auch den kleinsten Einzelheiten, erfaßt. Die Tiefen wurden von verschiedenen Farbschattierungen bezeichnet. Unterwassergebirge und einzelne Berge waren im Relief ausgeführt. Stunden konnte ich damit verbringen, die Routen der Tiefsee-Handelsschiffe nachzuziehen, das dünne Spinnwebennetz, das die Pipelines und Vakuum-Tunnels darstellten; hier wurde der Reichtum der Tiefsee transportiert. Alle Kuppelstädte von Marinia waren da, Eden Dome, Black Camp, Thousand Fathom, Gold Ridge und Rudspatt und etliche hundert andere. Sehnsüchtig besah ich mir immer wieder den Punkt weit draußen im Südpazifik, der Thetis bezeichnete, denn dort lebte mein Onkel Stewart und ging seinen geheimnisvollen Pflichten nach.
Auf dem Boden des Ozeans gab es unvorstellbare Reichtü-mer. Die Oberfläche war dreimal so groß wie die aller Kontinente zusammengenommen und dreimal so reich! Die verschatteten Zonen und die farbigen Flecken zeigten Mineralvorkommen wie Ölfelder, Goldsände, Kohlenflöze, Kupfer-, Zink-und Platinadern. Grellrot waren alle Uranfelder bezeichnet, denn Uran war das Lebensblut der Energieleitungen der ganzen Welt und besonders des Tiefsee-Service, denn ohne Atomenergie wären unsere Schiffe ebenso an die Oberfläche gebunden gewesen, wie die Schiffe der Alten. Eigentlich eine nüchterne Erfahrung, wenn man sah, wie spärlich diese Flecken waren. An jedem wurde intensiv gearbeitet, und die Lieferungen wurden, wenn man den Gerüchten glauben konnte, allmählich weniger.
Am aufregendsten waren jedoch alle weißen Flecken in der Mitte der See. Denn hier lagen die noch unerforschten Tiefen — der Philippinen-Graben, die Nares-Tiefen, die Marianas. Sechs, sieben und noch mehr Meilen nach unten, also noch unterhalb der Reichweite unserer stärksten Forschungskreuzer, unberührt und nahezu unbekannt. Auf der riesigen Karte schienen die Farbflecken, die Mineraldepots markierten, immer dichter und größer zu werden, je mehr die Tiefe zunahm, am dichtesten waren sie am Rand der unerforschten Tiefen. Das war, wie es hieß, auch ganz natürlich, denn die schwersten Mineralien lagen am tiefsten. Welche Schätze diese Tiefen noch beherbergen mußten!
Aber auch in Dixon Hall waren große Schätze — Schaukästen mit den verschiedensten Perlen, See-Amethysten und Korallen, die riesigen Elfenbeinstücke aus den tiefsten Abgründen, und von denen sagten die Wissenschaftler, sie seien die Stoßzähne vorzeitlicher See-Ungeheuer. Ich glaube, wenn ich so im Mittelpunkt der Hall stand, dann muß ich in der Reichweite meiner Augen mindestens Edelsteine im Wert von einer Million Dollar gesehen haben, und nichts davon war eingesperrt oder bewacht. Die Akademie hatte einen unglaublichen Ehrenkodex.
Es war ein wundervoller, aufregender Platz, in den man sich hineindenken konnte, bis man sich darin verlor. Am herrlichsten für mich waren die vielen Schaukästen und Schränke, wo die ganze Geschichte der Tiefsee-Navigation zusammengetragen und dargestellt war. Beebes winzige Bathysphere war da, die unglückliche Squalus, die alte Deutschland und viele andere in sorgfältig nachgebauten Modellen. Und noch etwas: das winzige Modell meines Onkels ersten zylindrischen Edenit-Tauchschiffs.
Ich glaube, hier in Dixon Hall lief ich immer am allermeisten Gefahr, gegen die Disziplin der Akademie zu verstoßen. Ganz verzaubert stand ich vor irgendeinem Modell oder einer Karte, bis die Schiffsglocke das Antreten zum Abendessen befahl, und ich kam dann immer atemlos angerannt, fast immer um einen Sekundenbruchteil zu spät, so daß ich regelmäßig von einem Offizier oder Oberklassenmann angeraunzt wurde. Dabei ging natürlich oft meine kostbare Freizeit verloren, und ich marschierte wieder einmal um den Hof herum. Eskow war meistens bei mir, wenn ich meine Runden drehte.
Ich konnte es kaum verstehen, was Eskow antrieb, sich den Mahlsteinen der Akademiejahre auszusetzen. In Bobs Familie gab es keine Tradition des Tiefsee-Service wie in der meinen.
Seinem Vater gehörte ein Zeitungsstand in New York, seine Großeltern waren aus irgendeinem Land des Balkans eingewandert.
Als ich ihn einmal danach fragte, wurde er verlegen. »Ich glaube, ich wollte nur etwas für mein Land tun«, antwortete er mit rotem Gesicht. Da ließ ich das Thema fallen. Aber Eskow war immer bei mir, ob wir nun die alte Nautilus durchstreiften oder die noch unbekannten Tiefen mit unseren Träumen und Vorstellungen füllten. Und ich wurde mir erst allmählich darüber klar, wie sehr ich mich auf Eskows heitere Bestimmtheit und ruhige Freundschaft verließ.