Ein Geräusch hinter ihr ließ sie aufblicken. Mom war vor dem Kamin auf die Knie gefallen und versuchte, mit Hilfe, eines Reibeholzes ein paar Späne zu entzünden. Charity schüttelte den Kopf, stand wortlos auf, trat neben sie und ließ ihr Feuerzeug aufschnappen. Die kleine Gasflamme leckte gierig an den trockenen Blättern, die Mom unter das Feuerholz gestopft hatte, und setzte sie augenblicklich in Brand.
Als sie zum Tisch zurückkam, starrte nicht nur Dad sie aus weit aufgerissenen Augen an. Auch auf Bobs Gesicht malte sich ein Ausdruck ungläubigen Staunens, ja fast Schreckens ab.
»Glaubt ihr es jetzt?« fragte Net leise. »Ich habe euch gesagt, sie ist eine verdammte Tie ...«
»Halt endlich den Mund«, unterbrach sie Dad, nicht einmal sehr laut, doch Net verstummte augenblicklich. Dad starrte Charity weiter sehr durchdringend an, und sie konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann entspannte sich sein Gesicht.
»Ganz egal, was du bist«, sagte er. »Du hast Net das Leben gerettet. Wir schulden dir Dank. Du kannst bleiben. Und deine Fragen werde ich beantworten.«
Sie redeten sehr lange. Moms Essen war ausgezeichnet, und Charity kam wieder zu Kräften. Sie erzählte vorsichtig von sich, wobei sie allerdings mit Bedacht sehr vage blieb, um nicht zuviel von sich zu verraten. Sie selbst erfuhr eine Menge über Dads Familie und die Welt, in der sie lebten. Die vier gehörten zu einer Gruppe von Menschen, die sich selbst Wastelander nannten und wie Nomaden umherzogen. Sie kamen oft zu dieser Farm zurück, die sie sich im Laufe der Jahre hergerichtet hatten, aber meistens hielten sie sich in der großen Ebene auf. Sie lebten von dem, was das Schicksal ihnen schenkte - ein wenig Jagd, ein wenig Sammeln, ein wenig Diebstahl, wobei es allerdings einen strengen Ehrenkodex gab, daß ein Wastelander niemals einen anderen bestahl. Aber es zogen oft Karawanen über die Ebene, und es schien nicht besonders schwer zu sein, sich an sie anzuschleichen und ihnen Wasser oder Essen zu stehlen. Die Fremden schienen überall zu sein, und Dads Worte ließen keinen Zweifel daran, daß sie die Herren des Planeten waren.
Wie es jenseits der Ebene aussah, wußte niemand der vier. Die Wastelander mieden die Außerirdischen nach Möglichkeit, diese wiederum ließen die Wastelander in Ruhe - solange sie sie nicht bei irgendwelchen Diebstählen erwischten. Net war am vergangenen Abend in die Berge geflohen, weil sie von einem Trupp Reiter gejagt worden war, wie Dad die gigantischen Käferwesen nannte. Charity erinnerte sich schaudernd an die Armee, die sie am Morgen durch das Fernglas gesehen hatte. Beinahe gegen ihren Willen empfand sie so etwas wie Achtung vor Net, als sie den beiläufigen Ton registrierte, in dem das Mädchen über ihre Flucht sprach.
Leider erfuhr sie sehr wenig darüber, wie es auf dem Rest dieses Planeten aussah. Dad und seine Frau waren in dieser Gegend geboren worden, ihre Eltern waren Wastelander gewesen wie sie, und auch ihre Kinder würden es wieder werden und diese trostlose Einöde wahrscheinlich niemals verlassen - was Charity ganz und gar nicht verstand.
»Aber habt ihr denn nie versucht, von hier wegzugehen?« fragte sie ungläubig.
»Weggehen?« Dad nippte an dem bitter schmeckenden Tee, den Mom ihnen nach dem Essen bereitet hatte, und schüttelte den Kopf.
»Aber wieso denn?« fragte er verwundert.
»Um ... um ...« Charity breitete hilflos die Hände aus, erntete einen schadenfrohen Blick von Gurk und sagte: »Um eure Lage zu verbessern, zum Beispiel. Das Leben hier muß ziemlich hart sein.«
»Das ist es«, bestätigte Dad ungerührt. »Aber wir leben, und wir wissen auch, daß wir wahrscheinlich morgen noch leben, wenn wir ein bißchen aufpassen.«
»Und das ist anderswo nicht so?«
»Woher sollen wir das wissen?« fragte Net scharf. »Wir waren niemals woanders. Warum nicht? Wir haben zu essen, und die Reiter lassen uns in Frieden. Manchmal gibt es Ärger mit den Sharks, aber meistens werden wir mit ihnen fertig.«
»Gestern abend schien das anders zu sein«, sagte Charity.
Net fuhr zusammen und senkte für einen Moment den Blick. Aber sie fing sich schnell wieder. »Okay«, sagte sie. »Ich war in den Bergen, und die Berge sind ihr Gebiet. Hier in der Ebene hätten sie mich nie gekriegt.«
Das klang nicht ganz überzeugend, aber Charity hielt es für besser, es dabei zu belassen. Sie hatte nichts davon, Net in Verlegenheit zu bringen.
»Außerdem kommst du doch von außerhalb«, fuhr das Mädchen aggressiv fort. »Du solltest uns sagen können, wie es dort aussieht.«
Charity seufzte. »Anders«, sagte sie ausweichend. »Aber auch nicht sehr viel besser, wenn ich ehrlich sein soll.« Sie seufzte erneut, sah Net, ihren Vater und die beiden anderen der Reihe nach an und fügte hinzu: »Ehrlich gesagt - ich bin vor ihnen geflohen. Sie haben mein ... mein Land auch überfallen.«
»Und besiegt«, vermutete Dad. »Deine Armee ...«
»Wurde geschlagen, ja«, sagte Charity. »Wir haben uns gewehrt, aber ...«
»Morons Heerscharen sind unbesiegbar«, sagte Dad ruhig. »Das weiß jeder. Gibt's noch andere Krieger?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Charity. »Nein, ganz bestimmt sogar. Ich denke, ich bin die einzige, die es geschafft hat.«
Sie dachte an Stone und überlegte einen Moment, ihnen von ihm zu erzählen, verwarf den Gedanken aber fast sofort wieder. Stone war längst fort, und wahrscheinlich längst tot. Wäre er vor ihr hiergewesen, hätte Dad davon gewußt. Ihre Situation kam ihr immer grotesker vor. Sie saß hier, trank Tee und redete mit ihm, als wäre sie eine Fremde, die gerade vom Mond gekommen war. Dabei wußte sie viel besser als er, was wirklich passiert war.
Aber sie versuchte nicht, ihn aufzuklären. Seine Welt war fremd und bizarr und wahrscheinlich sehr gefährlich, aber sehr klein und überschaubar. Der Gedanke an einen Schlaf, der Jahre oder vielleicht auch Jahrhunderte gedauert hatte, hätte nicht in sein Weltbild gepaßt.
»Wie lange ist es schon her?« fragte sie vorsichtig.
»Her?« Dad sah sie verwundert an. »Was?«
»Der Angriff«, erklärte Charity. »Ich meine, wann ... wann sind sie gekommen?«
»Gekommen?« Dad blinzelte.
»Moron«, sagte Charity. »Die Reiter.«
»Ich verstehe nicht. Du ...« Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Oh, du denkst, sie hätten uns auch überfallen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das ist ein Irrtum. Sie waren schon immer hier. Wenigstens so lange, wie ich mich erinnern kann.«
Charity lächelte müde. »Welches Jahr schreiben wir?«
Dad zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Wir schreiben nicht auf, wie viele Jahre vergangen sind«, antwortete er. »Wozu? Eines ist wie das andere. Mein Vater und mein Großvater waren Wastelander. Welchen Nutzen hat es, sich zu merken, wie viele Jahre vergangen sind?«
Charity hob hastig ihre Tasse und trank, um Dad nicht zu zeigen, wie sehr sie seine Antwort entsetzte.
»War das bei euch anders?« erkundigte sich Bob.
Charity nickte. »Ja. Wir ... wir haben die Jahre gezählt.«
»Aber das ist völlig sinnlos«, sagte Net.
Charity wollte eigentlich gar nicht antworten, aber irgend etwas brachte sie dazu, ihre Tasse abzustellen und das Mädchen anzusehen.
»Wir zählen nicht nur die Jahre, wir zählen auch die Tage und die Stunden«, antwortete sie.
»Und wozu?«
Charity seufzte. »Manchmal ist es ganz praktisch, weißt du? Wenn ich sage, daß ich fortgehe und in zwei Stunden wieder hier bin, dann mußt du zum Beispiel nicht die ganze Zeit herumstehen und auf mich warten, sondern bist pünktlich zur vereinbarten Zeit wieder am Treffpunkt.«
»Woher soll ich genau wissen, wann zwei Stunden vorüber sind?« fragte Net. »Niemand kann das so genau schätzen.«