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»Ich schon«, widersprach Charity heftig. Nets Fragerei begann ihr auf die Nerven zu gehen. Aber schließlich war sie selbst schuld.

»Ich kann dir sogar sagen, wann eine Minute vorüber ist. Man kann es messen. Mit einer Uhr.« Sie hob den Arm und streifte die Jacke zurück, damit das Mädchen ihre Armbanduhr sehen konnte. »Siehst du? Bis auf den Augenblick genau. Ich bin jetzt genau seit vier Stunden und zweiunddreißig Minuten bei euch.«

Net beugte sich neugierig vor, betrachtete das Ziffernblatt der Uhr interessiert und ließ sich wieder zurücksinken. »Trotzdem ist es nutzlos«, sagte sie stur. »Und gefährlich.«

Gefährlich? Charity sah sie verwirrt an, aber sie verzichtete darauf, eine Frage zu stellen. Es gab Wichtigeres zu klären.

»Dabei fällt mir ein, daß ich nicht mehr allzu lange bleiben kann«, fuhr sie in bewußt beiläufigem Ton fort. »In welche Richtung muß ich fahren, wenn ich auf andere Menschen treffen will?«

»Nur ein paar Meilen nach Norden«, sagte Gurk grinsend, »und schon bist du bei den Sharks.«

Charity schenkte ihm einen giftigen Blick und wandte sich an Dad. »Es gibt doch außer den Sharks und euch sicher noch andere?«

»Du fährst heute nirgendwo mehr hin«, bestimmte Dad, statt ihre Frage zu beantworten. »Es wird bald Nacht. Die Ebene ist für dich zu gefährlich. Trotz deiner Waffen.«

»Und morgen früh?« sagte Charity, womit sie sein Angebot, hier zu übernachten, stillschweigend annahm.

Dad überlegte einen Moment, dann zuckte er mit den Achseln.

»Andere Menschen? Sicher, es gibt sie. Aber ... im Norden sind die Sharks, im Osten die Berge und im Süden und Westen die große Ebene. Was dahinter liegt, weiß ich nicht.«

Charity stöhnte auf. Aus diesen Leuten würde sie nichts herausbringen. Doch plötzlich fiel ihr etwas ein, das sie die ganze Zeit über hatte fragen wollen und aus einem ihr selbst unbegreiflichen Grund einfach vergessen hatte.

Mit einem fragenden Blick wandte sie sich an Net. »Gestern nacht«, sagte sie. »Wie hast du mich da genannt? Eine Tiefe? Wer soll das sein?«

»Es gibt eine Legende«, sagte Gurk sehr hastig.

»Das ist keine Legende!« fuhr Net den Gnom an. »Es gibt sie! Jedermann weiß das!«

Gurk zog eine Grimasse und wollte etwas entgegnen, aber Charity gebot ihm mit einer ärgerlichen Handbewegung zu schweigen.

»Ein anderes Volk, so wie eures?« erkundigte sie sich.

»Sie sind nicht wie wir!« widersprach Net heftig. »Sie sind ...«

Sie suchte nach Worten. »Sie töten«, sagte sie schließlich. »Sie sind wie du. Tragen sonderbare Kleider und reden Dinge, die niemand versteht, und sie haben auch Waffen wie du. Und sie töten jeden, der in ihr Gebiet kommt.«

»Und wo liegt dieses Gebiet?« fragte Charity erregt.

»Sie leben unter der Erde. Irgendwo in den Bergen«, antwortete Net. »Da, wo ich dich getroffen habe. Deswegen dachte ich ja, du wärst eine von ihnen. Vielleicht bist du es ja.«

»Unsinn!« unterbrach sie Gurk aufgebracht. »Du und deine Tiefen! Hirngespinste sind das. Niemand hat sie je gesehen, oder?«

»Das hat man doch!« rief Net aufgebracht. »Sonst wüßte man ja nicht, daß es sie gibt, oder?«

Charity wurde plötzlich sehr nachdenklich.

Charity war Dad und seiner Familie im nachhinein sehr dankbar dafür, die Nacht bei ihnen verbringen zu können; aber sie lehnte Nets Angebot ab, das Bett mit ihr zu teilen, und zog es vor, in dem Schuppen zu schlafen, in dem Bob ihre Maschine versteckt hatte.

Äußerlich eine Ruine, verbarg sich hinter dem feuergeschwärzten Tor ein großer, wohlbestückter Lagerraum, in dem die Wastelander alle möglichen Gegenstände aufbewahrten, die sie von ihren Streifzügen mitgebracht hatten. Bei einer Menge Dinge konnte sich Charity beim besten Willen nicht vorstellen, was sie damit anfangen wollten - wie zum Beispiel einem halben Dutzend beschädigter Fernsehempfänger oder einer ganzen Kiste voller kleiner, silberfarbener CD-Platten -, aber vermutlich konnte man gerade in einer solchen Welt einfach alles gebrauchen.

Charity war sehr müde, obwohl es noch früh war, doch auch die Wastelander hatten sich schon zur Ruhe begeben. Bob hatte ihr ein Lager aus Decken und Kleidungsstücken bereitet, auf das sie sich beinahe sofort ausstreckte.

Trotzdem fand sie keinen Schlaf. Zu viel ging ihr durch den Kopf, zu viele Fragen waren nicht beantwortet worden.

Alles war so ... so anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Nicht, daß sie irgendeine auch nur halbwegs klare Vorstellung von dem gehabt hätte, was sie erwarten mochte, aber sie wußte zumindest, was sie nicht erwartet hätte: nämlich eine postatomare Wüstenlandschaft, in der die wenigen Überlebenden von motorradfahrenden Mad-Max-Imitatoren terrorisiert wurden.

Sie lag lange wach, grübelte und starrte die rußgeschwärzte Decke über sich an, ohne das Durcheinander hinter ihrer Stirn ordnen zu können. Draußen wurde es dunkel, und mit der Nacht drangen sonderbare Geräusche zu ihr herüber.

Schließlich - sie sah auf ihre überflüssige Uhr und stellte fest, daß gute zwei Stunden vergangen waren, seit sie sich hingelegt hatte - stand sie wieder auf, hängte sich ihre MP über die Schulter und verließ die Scheune.

Es war kalt geworden. Der Mond stand als riesige, runde Scheibe am Himmel und überschüttete die Ebene mit silbernem Licht, in dem sich die Schatten wie finstere Schluchten abhoben. Der Wind trug sonderbar beunruhigende Laute herüber.

Nervös drehte Charity sich einmal um ihre Achse, stellte erleichtert fest, daß sie allein war, und lehnte sich gegen das Scheunentor. Vor ihr erstreckte sich die Ebene, und auf der anderen Seite erhoben sich die Berge, aus denen sie gestern abend erst geflohen war.

Und zu denen sie zurückkehren würde, dachte sie. Morgen, sobald die Sonne aufging. Sie hatte Angst davor, aber gleichzeitig wußte sie auch, daß sie keine andere Wahl hatte.

Ihr Blick fiel auf einen kleinen mattglänzenden Gegenstand, der neben der Tür im Staub lag. Sie hob ihn auf und erkannte im schwachen Mondlicht, daß es sich um eine der Waffen handelte, die sie schon einmal bei Net gesehen hatte - ein gut zwanzig Zentimeter langer, klobiger Stab aus Holz, der sehr schwer war und keine sichtbare Öffnung hatte. Als sie ihn in der Hand drehte, spürte sie ein schwaches Vibrieren, als bewege sich etwas in seinem Inneren.

»Ich würde das weglegen, wenn ich du wäre«, sagte ein dünnes Stimmchen hinter ihr.

Charity schrak zusammen, drehte sich herum und blinzelte überrascht auf Gurk herab, der wie aus dem Nichts hinter ihr aufgetaucht war. Aber sie verbiß sich die Frage, wie zum Teufel er das geschafft hatte.

»Und ich wäre sehr vorsichtig damit«, fügte Gurk hinzu.

»So?« sagte sie nur.

Gurk streckte die Hand aus, nahm ihr den Stab aus den Fingern und schob ihn mit einer ganz und gar unvorsichtigen Bewegung unter seinen Gürtel. »Eine primitive Waffe, aber trotzdem ziemlich effektiv«, sagte er. »Der Stab ist hohl, weißt du? In seinem Inneren sind nur ein paar Springmaden.«

»Was ist das?«

Gurk grinste. »Ein paar niedliche kleine Tierchen. Sie stammen von einem Planeten, dessen Namen ich lieber nicht auszusprechen versuche. Ich habe keine Lust, mir die Zunge zu verknoten. Sie sind immer hungrig, weißt du? Wenn du auf den Auslöser drückst, dann wird eine von ihnen freigelassen und stürzt sich auf das erstbeste warmblütige Lebewesen, das es wittert. Sie sind ekelhaft schnell. Und ihr Gift wirkt auf der Stelle.«

Er zog eine Grimasse. »Ich muß mit Dad reden. Irgendwann wird noch ein Unglück passieren, wenn Net ihre Waffen weiter einfach so herumliegen läßt.«

Er legte den Kopf schräg und sah Charity nachdenklich an. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er.

»So?«

Gurk nickte. Seine dürre Greisenhand deutete auf die Berge im Osten. »Das Mädchen redet Unsinn«, sagte er, in einem sehr ernsten, fast schon besorgten Tonfall, den Charity an ihm noch nicht kannte. »Es ist eine Legende.«