Der Anblick erfüllte ihn mit hilflosem Zorn. Er hatte ein Dutzend Wastelander getötet, seit er die Führung der Sharks übernommen hatte, und fast ebenso viele seiner eigenen Leute, aber der Anblick des geschleiften Dorfes machte ihm zu schaffen. Diese ganze Aktion war eigentlich sinnlos und überflüssig gewesen.
Mit einem wütenden Tritt auf die Bremse brachte er die Maschine in der Dorfmitte zum Stehen, kippte sie auf den Ständer und sprang aus dem Sattel. Ein paar der Männer - die, die nicht damit beschäftigt waren, die Toten auszuplündern - kamen zögernd näher, und Skudder erkannte erst jetzt, daß es Kinks Gruppe war, die dieses Gemetzel angerichtet hatte.
Wortlos stieß er einen der Männer aus dem Weg, ging mit mächtigen Schritten auf Kink zu und riß ihn grob an der Schulter herum. Kink knurrte wütend; sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, und er ballte die Faust. Dann erkannte er Skudder und ließ die Hand wieder sinken. Skudder bedauerte fast, daß Kink nicht zugeschlagen hatte. Dann hätte er ihm die Lektion erteilen können, die er schon lange verdiente.
»Was ist hier passiert?« fragte er in herrischem Ton. »Hast du diesen Wahnsinn befohlen?«
Kink starrte ihn verwirrt an. Offensichtlich begriff er gar nicht, was Skudder meinte.
»Verdammt noch mal, ich will wissen, was hier passiert ist!« brüllte Skudder ihn an. »Haben sie euch angegriffen, oder was soll das?«
»Angegriffen?« Kink schluckte nervös. »Ich ... ich verstehe nicht. Du hast doch selbst gesagt ...«
»Ich habe gesagt, ihr sollt das Mädchen suchen«, unterbrach ihn Skudder, nun wieder mühsam beherrscht. »Ich habe gesagt, ihr sollt die Wastelander ein bißchen ausquetschen, ja, aber ich habe nicht gesagt, daß ihr sie alle umbringen sollt!«
Raoul berührte ihn am Arm. »Laß ihn«, sagte er beruhigend. »Es ist nun mal passiert.« Er lächelte, gab Kink ein Zeichen zu verschwinden und zog Skudder ein Stück mit sich. »Ich verstehe dich ja«, sagte er sehr leise, damit keiner der anderen ihn verstand, »aber du mußt sie auch verstehen. Es war eine Wastelanderin, die dem Mädchen zur Flucht verhelfen hat. Und sie hat Den umgebracht. Die Jungs wollen ihre Rache.«
»Das hier ist keine Rache«, sagte Skudder aufgebracht. »Verdammt, ich habe nichts dagegen, die Wastelander ein bißchen aufzumischen, aber das ist ... ist eine Kriegserklärung.«
Raoul antwortete nicht, Skudder begriff plötzlich, daß Raoul im Grunde sogar recht hatte; zumindest von seinem Standpunkt aus.
Wütend riß er sich los, drehte sich herum und lief ein paar Schritte, ehe er wieder stehenblieb.
Er fühlte sich hilflos. Hilflos und aufgebracht und sehr allein.
Und er brodelte innerlich vor Zorn, nicht nur auf Kink, der ein Idiot war und es wahrscheinlich einfach nicht besser wußte, sondern auf sich, diese Laird und vor allem auf Daniel, der ihm mit seinem Anruf vor vier Tagen diesen ganzen Mist eingebrockt hatte.
Es dauerte lange, bis er sich wieder so weit in der Gewalt hatte, daß er zu Raoul zurückgehen konnte. Sein Stellvertreter blickte ihm aufmerksam und mit einem unübersehbaren Ausdruck von Sorge an.
»Alles wieder in Ordnung?« fragte er.
Skudder nickte, obwohl er es besser wußte. Nichts war in Ordnung, aber das mußte er Raoul nicht breit erklären.
Sie waren noch am vergangenen Abend aufgebrochen, Raoul und er an der Spitze einer gewaltigen Kolonne von fast hundert Maschinen. Er hatte beinahe die Hälfte seiner Leute mitgenommen - völlig absurd, wenn er bedachte, daß sie eine einzelne Frau suchten!
Aber es hing sehr viel davon ab, daß sie sie auch fanden.
Doch bisher gab es nicht einmal eine Spur von ihr. Sie hatten sich aufgeteilt, kaum daß sie die Ebene erreicht hatten, und Skudder selbst hatte zusammen mit Raoul vier oder fünf Wastelander-Familien aufgestöbert. Niemand aber hatte die fremde Frau gesehen, nach der sie suchten, und Skudder war ziemlich sicher, daß sie die Wahrheit gesagt hatten. Raoul und er waren bei ihren Nachforschungen nicht gerade zimperlich vorgegangen.
»Haben sie wenigstens irgend etwas erfahren?« fragte er, noch immer zornig, aber äußerlich wieder beherrscht.
Raoul schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand hat eine Fremde gesehen oder von ihr gehört. Wir müssen weitersuchen.«
»Verdammt, wir können nicht jeden Wastelander in der Gegend umbringen«, sagte Skudder. »Sie muß hier irgendwo sein.«
»Es sei denn, sie ist wieder zurück in die Berge gelaufen«, sagte Raoul.
Skudder überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein«, sagte er überzeugt. »So dumm ist sie nicht. Sie würde wissen, daß sie dort keine Chance hat. Sie muß hier irgendwo sein.«
Einen Moment lang sah er Raoul nachdenklich an, dann machte er eine entschlossene Kopfbewegung nach Osten, zu den Bergen hin.
»Such ein paar zuverlässige Jungs aus«, sagte er. »Wir fahren zurück. Vielleicht finden wir eine Spur.«
»Sie kann schon hundert Meilen weit weg sein«, gab Raoul zu bedenken. »Dens Maschine war fast vollgetankt.«
»Ich weiß«, knurrte Skudder. »Aber ich finde sie. Ganz egal, wo sie sich versteckt.« Er hatte nicht mehr viel Zeit. Von den zweiundsiebzig Stunden, die Daniel ihm gegeben hatte, waren bereits vierundzwanzig verstrichen. Und Daniel war niemand, der mit sich handeln ließ.
Die Wastelander pflegten im Morgengrauen aufzustehen. Charity hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als Net sie weckte und ins Haus brachte, wo ein Frühstück auf sie wartete, das ihr ärmlich vorkam, für diese Leute hier wahrscheinlich aber eher fürstlich war. Sie vermißte Gurk am Tisch, aber auf ihre Frage antwortete Dad nur, daß er schon sehr früh weggegangen wäre. Nach dem Frühstück verabschiedete Charity sich. Sie hatte das sichere Gefühl, daß Dad und die anderen sie nicht ungern gehen ließen.
Trotzdem hatte sie das heftige Bedürfnis, sich bei den Wastelandern erkenntlich zu zeigen. Und obwohl sie wußte, daß sie es bald schon bereuen würde, zog sie zum Abschied ihr Feuerzeug aus der Tasche und schenkte es Mom.
Die Wastelanderin starrte sie ungläubig an, während sie das kleine weiße Plastikding in ihre Hand fallen ließ. »Sei sparsam damit«, sagte Charity. »Es hält nicht ewig.« Dann drehte sie sich herum und lief aus dem Haus.
Bob hatte die Harley bereits aus dem Schuppen geholt und ihr Gepäck auf dem Rücksitz verstaut; inklusive des Lasergewehrs, das er mit Stricken so fest an den Gepäckträger gebunden hatte, daß sie eine Stunde brauchen würde, um es wieder loszubekommen. Sie lächelte ihm dankbar zu, ehe sie sich in den Sattel schwang und davonfuhr.
Sie entfernte sich in südlicher Richtung von der Farm, aber sie fuhr nur so weit, daß sie sicher sein konnte, von dort aus nicht mehr gesehen zu werden, dann bog sie vom Weg ab und hielt wieder auf die Berge zu.
Sie war sich der Tatsache völlig bewußt, wie verrückt ihr Vorhaben war. Sie war keineswegs davon überzeugt, die Tiefen wirklich zu finden. Vielleicht waren sie wirklich nur eine Legende.
Gurk hatte vollkommen recht: Menschen in Not, Menschen, die unterdrückt oder gejagt wurden, erfanden sich immer einen Retter, der die Erlösung versprach und es etwas leichter machte, ihr Leiden durchzustehen. Aber wenn es sie gab, dann ließ Nets Beschreibung nur den Schluß zu, daß es sich um Überlebende handelte, Menschen wie sie, die es irgendwie geschafft hatten, sich einen Teil der alten Zivilisation zu bewahren. Auch die Vermutung, daß sie aus irgendwelchen sagenumwobenen Tiefen stammten, paßte.
Schließlich befand sich unter den Bergen das ehemals größte und sicherste Bunkersystem der Welt.
In das die Fremden eingedrungen waren und das sie systematisch in Trümmer gelegt hatten, kurz bevor du in den Tank gestiegen bist, wisperte eine Stimme hinter ihrer Stirn.
Sie verscheuchte den Gedanken. Verdammt, sie wußte selbst, wie klein die Chance war, irgendwo auf Hilfe zu stoßen; sie brauchte ihr boshaftes Unterbewußtsein nicht, um sich daran zu erinnern.