»Laß mich dein Bein sehen«, verlangte Skudder. Raoul wollte abwinken, aber Skudder packte ihn einfach am Arm, zwang ihn, sich zu setzen und riß sein Hosenbein bis über das Knie auf. Raoul stöhnte leise.
Die Wunde war nicht sehr viel größer als ein Nadelstich, aber das Fleisch ringsum war ziemlich angeschwollen, und sein Bein fühlte sich hart wie Eisen an. Skudder drehte Raouls Bein behutsam und sah, daß der nadeldünne Lichtstrahl seine Wade glatt durchschlagen hatte. Er sah auf, blickte einen Moment lang zu den brennenden Maschinen hinüber, und schauderte. Plötzlich war er sehr froh, daß er Lairds Schuß um Haaresbreite entgangen war.
»Das ist ein bißchen mehr als ein Kratzer«, sagte er ernst. »Sieht nicht gut aus.«
Raoul zuckte mit den Schultern und zog das Bein vorsichtig zurück. »Fühlt sich auch nicht besonders gut an«, gestand er. »Ich möchte wissen, was das für ein Teufelsding war.«
Gegen seinen Willen mußte Skudder lachen. Kopfschüttelnd beugte er sich zur Seite, angelte nach Charitys Laser und hob ihn mit einer fast ehrfürchtigen Bewegung auf. Vorsichtig drehte er ihn in den Händen. Die Waffe ähnelte auf den ersten Blick einem Kleinkalibergewehr, aber sie war überraschend leicht und bestand nicht aus Metall und Holz, sondern aus einem Kunststoffmaterial, wie Skudder es noch niemals gesehen hatte. Statt in einer Mündung endete der Lauf in einem fingerlangen Rohr aus Glas, in dem ein dunkelrotes, ganz sanft pulsierendes Licht glomm, und wo der Abzug sein sollte, befand sich ein roter Knopf; dicht daneben eine Art Rad, das wohl dazu diente, die Leistungsstärke der Waffe zu regulieren. Skudder war verwirrt. Er hatte schon Strahlenwaffen gesehen - aber diese Waffe unterschied sich völlig von denen, die die Moroni benutzten.
Dann begriff er. Diese Waffe war auf der Erde gebaut worden.
Von Menschen und für Menschen. Verwirrt legte er die Waffe neben sich in den Sand und half Raoul dabei, wieder aufzustehen. Mit der freien Hand deutete er auf die Harley, mit der Laird gekommen war.
»Du nimmst die Maschine und fährst zum Lager zurück«, sagte er. »Laß dein Bein verarzten. Bart kann dich fahren.«
»Dann habt ihr kein Fahrzeug«, gab Raoul zu bedenken.
»Unsinn«, widersprach Skudder. »Wir können sowieso nicht zu fünft auf einer einzigen Kiste fahren, oder?« Er klopfte mit der Hand auf das kleine Funkgerät, das in seinem Gürtel steckte. »Wir warten auf die anderen. Und du schickst Matt mit dem Wagen her, sobald du im Lager angekommen bist. Und jetzt verschwinde.«
Raoul wollte abermals widersprechen, aber Skudder brachte ihn mit einer fast herrischen Geste zum Verstummen. »Du tust, was ich sage.«
Raoul nickte. »Vielleicht hast du recht«, murmelte er. Vorsichtig machte er einen Schritt, sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und schüttelte mit einem gequälten Lächeln den Kopf.
»Nein«, verbesserte er sich. »Du hast recht. O verdammt, tut das weh.« Er stöhnte und bewegte vorsichtig sein Bein. Skudder ging dicht neben ihm her, um ihn nötigenfalls auffangen zu können, falls er stürzte. Raoul blieb abermals stehen, als sie an der bewußtlosen Laird vorbeikamen.
»Ich möchte nur wissen, warum sie das getan hat«, murmelte Raoul plötzlich.
»Was?«
Raoul deutete auf die Berge im Osten. »Wir hätten sie nie eingeholt«, sagte er überzeugt. »Aber sie ist freiwillig zurückgekommen. Das ist doch verrückt.«
»Vielleicht hat sie das Feuer gesehen«, vermutete Skudder.
»Und ist zurückgekommen, um den Wastelandern zu helfen?« Raoul schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Sie kann doch unmöglich geglaubt haben, allein mit uns allen fertig zu werden.«
»Beinahe hätte sie uns erledigt«, antwortete Skudder ruhig.
»Wenn du sie nicht abgelenkt hättest ...«
»Weißt du, was die Kleine erzählt hat?« fragte Raoul mit einer Geste auf Net. Skudder schüttelte den Kopf, und Raoul fuhr fort: »Sie behauptet, Laird wäre auf dem Weg zurück in die Berge gewesen. Um die Tiefen zu suchen.«
»Blödsinn«, knurrte Skudder. »Aber ich werde sie danach fragen, wenn sie aufwacht. Und jetzt verschwinde. Fahr los und sieh zu, daß der Laster hierherkommt. Ich habe keine Lust, hier zu übernachten.«
Reglos sah er zu, wie Raoul auf die Maschine zuhumpelte und sich mühsam in den Sattel zog, nachdem Bart vor ihm Platz genommen und den Motor gestartet hatte. Erst nachdem die beiden außer Sicht waren, drehte er sich herum und winkte Kink zu sich. Raoul war ein wenig überrascht gewesen, als Skudder darauf bestanden hatte, ausgerechnet diesen Psychopathen mitzunehmen - aber Skudder war einfach wohler dabei, ihn im Auge zu haben.
»Was machen wir mit der Wastelanderin?« erkundigte sich Kink.
Skudder sah einen Moment lang nachdenklich zu Net hinüber, die - jetzt wieder an Händen und Füßen gefesselt - ein Stück abseits saß und ihn und Kink abwechselnd aus Augen anstarrte, in denen sich panische Angst und nackte Mordlust mischten.
»Wir nehmen sie mit«, bestimmte er nach kurzem Überlegen. »Vielleicht gibt es noch das eine oder andere, was sie uns erzählen kann.«
Kink schien widersprechen zu wollen, beließ es aber dann bei einem kaum angedeuteten Nicken und starrte zu Boden.
»Wolltest du etwas sagen?« fragte Skudder scharf.
»Sie hat Den erledigt«, antwortete Kink zögernd.
»Ach?« machte Skudder lauernd. »Sagt sie das?«
»Nein«, gestand Kink. »Aber ich weiß es. Und du auch. Es war Garth' Maschine, oder? Und ...«
»Wenn es so ist«, unterbrach ihn Skudder scharf, »dann finden wir es noch früh genug heraus. Wir nehmen sie mit. Und du rührst sie nicht an, verstanden? Übrigens - was ist mit dem Jungen?« fügte er hinzu, ehe Kink abermals widersprechen konnte. »Habt ihr ihn erwischt?«
Kink senkte den Blick noch weiter und schüttelte den Kopf. »Er war zu schnell«, gestand er. »Aber ich kriege ihn, wenn du es willst. Zu Fuß hat er keine Chance.«
»Idiot«, sagte Skudder ruhig. Er zog das Funkgerät aus dem Gürtel und drückte es Kink in die Hand. »Versuch mal, einen der anderen zu erreichen. Ich fühle mich nicht besonders wohl hier draußen, solange ich nicht weiß, ob im nächsten Moment nicht eine ganze Armee rachedurstiger Wastelander hier auftaucht.«
Kink nahm das Funkgerät und ging. Skudders Befürchtungen waren keineswegs aus der Luft gegriffen. Einer der Wastelander war entkommen, und vielleicht schaffte er es tatsächlich, irgendwo Verstärkung zu holen.
Seufzend drehte er sich um, nahm Charitys Gewehr, um es sich über die Schulter zu hängen, und ging dann noch einmal zu seiner bewußtlosen Gefangenen hinüber. Trotz des blutigen Kratzers auf ihrer Stirn sah sie sonderbar friedlich aus, wie sie so dalag; fast, als schliefe sie. Und ihr Gesicht wirkte ...
Es fiel Skudder schwer, sich darüber klarzuwerden, welche Gefühle ihr Anblick wirklich in ihm auslöste. Er war verwirrt. Sie war eine hübsche Frau - keine Schönheit, aber sehr hübsch, fast noch ein bißchen mädchenhaft, obwohl sie älter sein mußte als er. Und doch haftete ihrem Gesicht eine eigentümliche Strenge an. Wer war sie?
Und warum war sie so wichtig, daß Daniel all seine Macht ausspielte, um sie in seine Gewalt zu bringen?
Er bedauerte fast, Kink den Befehl gegeben zu haben, sie zu betäuben. Es gab eine Menge, was er sie fragen wollte.
Kink erreichte niemanden mit seinem Funkgerät, was Skudder nicht besonders überraschte; die kleinen Walkie-talkies, die Daniel ihnen zur Verfügung gestellt hatten, besaßen weder eine sehr große Reichweite, noch waren sie besonders zuverlässig. Aber eine halbe Stunde später stieß eine der anderen Gruppen von sich aus zu ihnen, und Skudder begann sich wieder ein wenig sicherer zu fühlen.
Etwa eine Stunde vor Mittag brachen sie auf, obwohl es vielleicht klüger gewesen wäre, auf Raoul und den Lastwagen zu warten; die Maschinen waren völlig überladen, und die drei reglosen Gestalten, die sie auf den Satteln festbinden mußten, machten die Sache auch nicht gerade leichter. Sie fuhren etwa eine Stunde, ehe der Truppführer plötzlich langsamer wurde und schließlich anhielt. Die Kolonne kam schwerfällig zum Stehen, nur Skudder lenkte seine Maschine neben den ersten Shark und sah ihn fragend an. »Was ist los?«