Sie wartete fast fünf Minuten, bis sie mit zusammengebissenen Zähnen die Hand nach dem Metallreif ausstreckte, der um ihrem linken Handgelenk lag, und ihn löste. Es tat ekelhaft weh, und dort, wo die Nadeln gewesen waren, traten kleine hellrote Blutströpfchen aus ihrer Haut. Sie würde Stone die Zähne einschlagen, dachte sie wütend. Einen für jeden Tropfen Blut, der jetzt über ihre Hand lief.
Der Zorn aktivierte neue Kräfte in ihr. Stöhnend setzte sie sich ganz auf, sah zuerst nach rechts, dann nach links und musterte dann den benachbarten Tank, einen sechs Meter langen, schimmernden Sarg aus verchromtem Stahl, in dem Stone lag. Er war noch geschlossen.
Ein jäher Schrecken durchfuhr sie. Vielleicht war er tot. Die Chancen, den Hibernationstank zu überleben, standen fünfzig zu fünfzig, erinnerte sie sich. Sie war erwacht, aber vielleicht hatte es Stone erwischt, und er faulte seit einem Jahrhundert in seinem Zwanzig-Millionen-Dollar-Sarg vor sich hin.
Sie würde es kaum herausfinden, wenn sie weiter hier saß und den Tank anstarrte. Charity wartete, bis sie sich kräftig genug dazu fühlte, dann stemmte sie sich aus dem Tank, tastete vorsichtig mit dem Fuß nach der obersten Stufe der kleinen Treppe und stieg zitternd hinunter. Anschließend blieb sie zehn Minuten lang zitternd und völlig außer Atem sitzen und kämpfte abwechselnd gegen Übelkeit und eine neue Ohnmacht an, die sie überfallen wollte.
Aber ihre Kräfte kamen jetzt rasch zurück. Vor einer halben Stunde hatte sie nicht einmal die Energie gehabt, die Hand zu heben, geschweige denn, eine anderthalb Meter hohe Leiter hinunterzusteigen. Sie stand auf, machte einen Schritt auf Stones Tank zu und kehrte wieder um. Bevor sie den Streit fortsetzten, den sie vor zehn oder vielleicht auch zehntausend Jahren unterbrochen hatten, war es vielleicht besser, zuerst einmal gewisse Dinge herauszufinden - zum Beispiel die Antwort auf die Frage, wie lange ihr unfreiwilliger Schlaf gedauert hatte.
Sie mußte auf die andere Seite, um einen Blick auf den Steuercomputer zu werfen. Es war ihr bisher gar nicht aufgefallen, daß der Tank zwei Meilen lang war, aber das war ungefähr die Strecke, die sie sich an dem schimmernden Metall entlangquälte, mit kurzen Schritten, nach vorne gebeugt wie eine zweihundertjährige Greisin und keuchend vor Anstrengung.
Das Ergebnis lohnte die Mühe nicht. Der Computer war so tot, wie er nur sein konnte: Das Dutzend kleiner Kontrollichter auf seiner Oberfläche war erloschen, und der Bildschirm matt und voller Staub.
Aus der mechanischen Digitalanzeige neben dem Gerät grinste sie eine 888 an.
Achthundertachtundachtzig Jahre? Verwirrt - und mehr als nur ein bißchen erschrocken - beugte sie sich vor und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das verstaubte Glas. Etwas klickte. Die mittlere der drei Achten verwandelte sich in eine Null, und Charity begriff, was geschehen sein mußte: Wie der Computer hatte auch das Zählwerk schlicht und einfach den Geist aufgegeben. Was den Weckvorgang aktiviert und den Tank aufgeklappt hatte, mußte eine Art Notautomatik gewesen sein. Im stillen bedankte sie sich bei den unbekannten Technikern, die dieses Gerät konstruiert hatten. Ihre Umsicht hatte ihr das Leben gerettet.
Damit wußte sie allerdings immer noch nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber das war im Moment auch nicht so wichtig. Sie lebte, das allein zählte.
Plötzlich kam ihr ein anderer, weit unangenehmerer Gedanke.
Dieser ganze Tiefschlafkomplex hatte eine eigene Energieversorgung, und es war nur zu logisch, daß die Tanks dabei oberste Priorität genossen. Das matte Glimmen der einst grellweißen Leuchtröhren unter der Decke verriet ihr genug über den Zustand der Reaktorladung. Wie zum Teufel sollte sie hier herauskommen? Sie erinnerte sich sehr lebhaft an die tonnenschwere Panzertür, die Stone hinter sich geschlossen hatte.
Wieder blieb sie zehn Minuten lang sitzen, ehe sie sich an den Rückweg machte. Diesmal war der Tank nur eine Meile lang, und für die Expedition hinüber zu dem Stones brauchte sie kaum eine Viertelstunde. Noch ein paar Tage, und sie würde den ganzen Raum durchqueren können, ohne auch nur ein einziges Mal vor Erschöpfung in Ohnmacht zu fallen.
Das Schaltpult an Stones Tank war gleichfalls tot, seine Digitalanzeige stand komplett auf Null.
Sie streckte die Hand nach dem großen, roten Knopf aus, der den Öffnungsmechanismus in Gang setzte, zog die Finger dann aber schnell zurück. Selbst, wenn das Wunder geschah und der Tank sich öffnete - sie hatte plötzlich Angst vor dem, was sie vielleicht finden würde.
Charity verscheuchte den Gedanken, streckte noch einmal die Hand aus, und diesmal berührte sie den Knopf. In der ersten, schrecklichen Sekunde geschah gar nichts, aber dann drang irgendwo aus den Tiefen des Tanks ein leises, metallisches Klack, und das Wunder geschah: Der riesige, stählerne Sarg teilte sich und klappte auseinander wie ein Paar gewaltiger Käferflügel.
Der Tank war leer.
Charity starrte sekundenlang verblüfft auf die Schaumstoffunterlage, auf der sich noch deutlich die Umrisse eines menschlichen Körpers abzeichneten. Erleichterung und Wut erfüllten sie; Erleichterung, weder einen mumifizierten Leichnam noch ein Häufchen Staub und ausgebleichter Knochen vorzufinden, und Wut, weil dieser leere Tank nur eines bedeuten konnte: Stone war vor ihr aufgewacht, und er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu wecken, sondern war ...
Verwirrt sah sie sich um. Der Raum war riesig und vollgestopft mit Geräten und Schränken und nicht zuletzt dem halben Dutzend zyklopischer Tanks, aber es gab trotzdem kein Versteck, das groß genug gewesen wäre, einen erwachsenen Menschen zu verbergen.
Und das wiederum bedeutete, daß er einen Ausgang gefunden hatte ...
Für einen Moment vergaß Charity ihre Erschöpfung. Sie trat von Stones Tank zurück, blickte sich aufgeregt um - und wäre beinahe gefallen, als ihre Beine ihr den Dienst verweigerten.
Keine Panik, jetzt! dachte sie. Es mußte eine Lösung geben. Die Konstrukteure dieser Anlage mußten eine solche Situation vorausgesehen haben. Wenn sie die Nerven behielt und logisch vorging, würde sie ...
Ihr Blick fiel auf einen roten Gegenstand, der in Stones leerem Tank lag, und fast im gleichen Moment hatte sie das heftige Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen. Sie hatte die Plastikmappe mit den Notfallinstruktionen schlichtweg vergessen. Es gab eine in jedem Tank, nicht nur in dem Stones. Ächzend zog sie sich über den Rand des offenstehenden Stahlsarges, angelte den roten Hefter hervor und begann zu lesen. Auf den zwei Dutzend engbedruckten Seiten stand alles, was sie wissen mußte.
Trotzdem dauerte es noch länger als zwei Stunden, bis sie soweit war, den Bunker zu verlassen. Charity erholte sich zusehends, was nicht zuletzt an den Pillen lag, die sie in einem Schrank fand und von denen sie kurzerhand eine ganze Handvoll schluckte. Sie hatte keine Ahnung, was sie draußen erwartete, aber sie würde jedes bißchen Kraft brauchen, das sie bekommen konnte.
Offenbar war auch Stone den Instruktionen gefolgt; einer der sechs gepackten Tornister fehlte, außerdem zwei Lasergewehre und eine MP; wenn sie Stones eigene Waffe mitzählte, dann stand zu vermuten, daß dieser Wahnsinnige vier Gewehre mit sich schleppte.
Charity schüttelte seufzend den Kopf, hängte sich selbst einen Laser über die Schulter und nahm nach kurzem Zögern noch ein Messer und eine kleine, zusammenklappbare Maschinenpistole aus dem Waffenschrank.
Den Bunker zu verlassen erwies sich als relativ leicht - und sehr gefährlich. Auch der Fluchtweg war von einer dreißig Zentimeter starken Panzerstahlplatte versperrt gewesen, aber anders als beim Haupteingang hatten ihre Konstrukteure hier eine Vorrichtung angebracht, die die Tür elektrisch geschlossen hielt. Sobald der Strom ausfiel, klappten die beiden Panzerstahlflügel automatisch auseinander. Nein, die Tür war nicht das Problem. Das, was Charity den puren Angstschweiß auf die Stirn trieb, lag dahinter.