»Zu unserem Führer«, erwiderte Mark kalt. Skudder fuhr fast unmerklich zusammen, aber Charity war nicht sonderlich überrascht.
Captain Laird, hatte die Lautsprecherstimme gesagt, und das Wort Captain war ihr ein bißchen zu glatt über die Lippen gegangen. Sie hatte das bestimmte Gefühl, zu wissen, wer sie auf der anderen Seite der Tür erwartete.
Sie durchquerten den Raum, in den Charity gerade hineingesehen hatte und der wirklich so etwas wie eine Computerzentrale zu sein schien. Die Männer und Frauen an den Pulten waren ausnahmslos so blaß und schlank wie Mark, und ihre gleichförmige Kleidung ließ sie wie Automaten wirken.
Sie fühlte sich in einen jener alten Science-Fiction-Filme versetzt, in denen die Menschen nach einer Atomkatastrophe in unterirdischen Bunkeranlagen überlebt hatten, menschliche Maulwürfe, die nicht einmal mehr wußten, daß es einmal einen Himmel gegeben hat, der nicht aus Stein oder Beton bestand.
Nur, daß dies keine erfundene Geschichte war, sondern die Wirklichkeit. Und daß sie hundertmal schlimmer war als alles, was menschliche Phantasie jemals ersonnen hatte.
Endlich hatten sie den Raum durchquert, und Mark öffnete eine weitere Tür. Charity registrierte, daß rechts und links des Durchganges bewaffnete Posten standen, die sie und Skudder mit unverhohlenem Mißtrauen musterten.
Als sie durch die Tür traten, wurden sie von grellen Scheinwerfern geblendet. Hinter einem richtigen Schreibtisch saß eine Gestalt, die sie im gleißenden Licht kaum wahrnehmen konnten.
Ärgerlich hob sie die gefesselten Hände ans Gesicht und blinzelte. »Was soll dieser Unsinn, Stone?« fragte sie. Sie sah, wie Skudder erstaunt zusammenfuhr und sie aus großen Augen anblickte, und auch auf Marks Gesicht erschien ein fragender Ausdruck. »Wir haben jetzt lange genug Theater gespielt, finden Sie nicht?« fuhr sie fort. »Schalten Sie das blödsinnige Licht aus!«
Im ersten Moment geschah nichts. Dann bewegte sich der Schatten hinter dem Lichtvorhang, und ein leises, sehr dünnes Lachen erscholl. Etwas klickte, und das Licht erlosch.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich Charitys Augen wieder an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten - und dann noch einmal eine Weile, bis sie begriff, daß sie sich getäuscht hatte.
Es war nicht Stone. Aber sie kannte das Gesicht auf der anderen Seite des Schreibtisches trotzdem; obwohl es sich auf unglaubliche Weise verändert hatte.
»Niles!« flüsterte sie fassungslos.
9
Raoul schob sich Zentimeter für Zentimeter auf den Hang zu. Er hatte zwanzig Minuten gebraucht, um die zehn Schritte vom Waldrand bis zum Fuß der Geröllhalde zurückzulegen, auf dem Bauch kriechend und so langsam, daß er manchmal das Gefühl gehabt hatte, überhaupt nicht mehr von der Stelle zu kommen. Die ganze Zeit über hatte er das kleine, blinkende Glasauge nicht einmal aus den Augen gelassen, das aus der Schutthalde herab auf den Waldrand starrte.
Keiner der anderen hätte es bemerkt, und auch Raoul hatte es nur gesehen, weil er erstens ziemlich genau gewußt hatte, wonach er suchen mußte, und weil es sich bewegte - sehr langsam, aber unaufhörlich.
Eine halbe Drehung nach rechts, Pause.
Eine halbe Drehung nach links, Pause ...
Manchmal, wenn ein fallendes Blatt, ein Staubwirbel oder ein kleines Tier in seinen Sichtbereich gekommen waren, hatte es angehalten, aber nie für sehr lange.
Raoul kannte diese Art von Überwachungsgeräten, und das war auch der Grund, warum er sich auf Händen und Knien und im Schneckentempo bewegte. Immer dann, wenn das matte Glasauge direkt in seine Richtung blickte, erstarrte er zu völliger Reglosigkeit.
Dann atmete er nicht einmal mehr.
Es war eine Videokamera, aber das kleine, in unregelmäßigen Abständen flackernde rote Auge darunter verriet ihm auch, daß sie nicht permanent eingeschaltet, sondern mit einem primitiven Melder gekoppelt war, der auf jegliche Art von Bewegung reagierte. Er vermutete, daß es Dutzende, wenn nicht Hunderte solcher künstlichen Augen gab, die das Gelände rings um den Berg absuchten. Wahrscheinlich waren sie mit einem Computer gekoppelt, der jede registrierte Bewegung auswertete.
Raoul hatte die Schutthalde erreicht. Die Kamera war ihm so nahe, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren.
Sein Blick huschte über die Trümmerlandschaft aus Felsbrocken und Schutt und blieb an einem niedrigen, dreieckigen Spalt hängen.
Der Eingang. Hier nur konnte der Eingang liegen.
Langsam, unendlich langsam, richtete er sich auf und streckte die Hand nach der Kamera aus. Zwischen seinen Fingern glitzerte ein rundes Glas, geschliffen wie ein Prisma, aber viel zu dick dafür, und auf sonderbare Weise gleichzeitig durchsichtig wie milchig.
Seine Hand brauchte zehn Minuten, um die knapp zwanzig Zentimeter zurückzulegen, und seine Kräfte drohten abermals zu erlahmen. Er wartete. Die Kamera drehte sich, hielt an, drehte sich weiter, richtete sich für einen Moment genau auf seine Hand. Raouls Finger zuckten in einer unglaublich schnellen Bewegung vor.
Das Prismenglas prallte klirrend gegen die Aufnahmeoptik und verdeckte sie. Für den Bruchteil einer Sekunde verzerrten graue Schlieren das Glas, und Raoul wußte, daß jetzt irgendwo im Inneren des Berges eine Alarmglocke anschlug und wahrscheinlich ein Monitor zum Leben erwachte.
Dann klärte sich das Glas, und unten auf dem Monitor würde im gleichen Moment nichts anderes als das vertraute Bild des Waldrandes zu sehen sein, farbig und dreidimensional und sogar mit der Illusion von Bewegung - aber ohne die Sharks, die auf sein Zeichen hin aus ihrer Deckung traten und sich dem Hang näherten.
Das Prisma filterte sie einfach heraus, so, wie es alles aus dem Bild herausgefiltert hätte, von dem Raoul wollte, daß es es tat. Es war ein kleines Wunderwerk, dieses harmlos aussehende Glas. Es war nicht auf der Erde gemacht worden.
Raoul erhob sich stöhnend und verbrachte die nächsten Minuten damit, seine Hand- und Fußgelenke zu massieren, bis das Leben kribbelnd in seine Glieder zurückkehrte. Dann drehte er sich zu Bart und den gut hundert anderen Sharks herum, die hinter ihm stehengeblieben waren, zog seine Waffe und deutete auf den dreieckigen Spalt im Berg.
»Los!« befahl er.
Es ist völlig unmöglich, dachte Charity, absolut ausgeschlossen.
Aber der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches war Niles.
Niles, mit dem sie zum Mond und zum Mars und dann zum Sternenschiff hinaufgeflogen war. Sie hatte ihn gemocht, hatte gern mit ihm zusammengearbeitet. Niles war ein gutes Jahr jünger als sie gewesen, ein Bild von einem Mann, sehr intelligent, nur manchmal hatte er sich darin gefallen, den dummen Nigger zu spielen.
Jetzt aber war er ...
Charity starrte das Gesicht auf der anderen Seite des Tisches an, suchte krampfhaft nach Worten und versuchte vergeblich, das Entsetzen zu unterdrücken, mit dem der Anblick sie erfüllte.
Niles war alt. Unglaublich alt. Sein Gesicht schien nur noch aus Runzeln und Falten zu bestehen. Er hatte keine Haare mehr. Seine Wangen waren eingefallen, und seine Augen, die immer so lebenslustig und wach gewirkt hatten, waren vom Alter trüb geworden.
»Großer Gott«, flüsterte sie schließlich.
Mehr brachte sie nicht heraus. Sie konnte nicht in Worte fassen, welche Gefühle Niles' Anblick in ihr auslöste. Und dann dachte sie, daß ihre Reaktion ihn tief verletzen mußte. Betreten senkte sie den Blick.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Laird«, sagte er. Seine Stimme war dünn, wirkte aber dennoch voller Kraft. »Für mich war es ein ebensolcher Schock, Sie zu sehen. Aber ich war nicht ganz unvorbereitet.«
Er deutete auf einen der kleinen Bildschirme, die nebeneinander auf einem Bord hinter dem Schreibtisch aufgereiht waren. »Ich hatte eine halbe Stunde, mich an den Gedanken zu gewöhnen.« Er lachte. »Ich habe mir eine Menge kluger Worte zurechtgelegt, mit denen ich Sie begrüßen wollte - aber eigentlich ist das alles albern. Wer ist Stone?«