Charity sah wieder auf. Es fiel ihr noch immer schwer, dem Blick seiner um zwei Generationen gealterten Augen standzuhalten.
»Niemand«, antwortete sie.
»Niemand?«
»Ein Mann, den ich hier zu treffen erwartete. Es spielt keine Rolle.« Plötzlich fiel ihr wieder der erste Gedanke ein, der ihr durch den Kopf geschossen war, als sie ihn erkannte. »Wieso leben Sie noch?«
Die Worte taten ihr schon im gleichen Moment wieder leid, in dem sie sie aussprach. Selbst in ihren eigenen Ohren klangen sie fast wie ein Vorwurf. Aber Niles schien ihr die Bemerkung nicht übelzunehmen.
»Unkraut vergeht nicht, das wissen Sie doch.« Er lachte wieder, aber diesmal klang es nicht echt. Charity hatte das Gefühl, daß ihm das Sprechen große Mühe bereitete. Er hustete.
»Ich habe es überlebt, so wie Sie - wenn ich mich auch nicht ganz so gut gehalten habe.«
»Aber New ...«
»Ich bin herausgekommen«, unterbrach sie Niles. »Fragen Sie mich nicht wie. Ich weiß es nicht mehr. Irgendwie habe ich es geschafft. Und andere auch. Die ... die Vernichtung war nicht so total. Sie haben Manhattan ausradiert und einen Teil der Küste, aber wir ... hatten Glück.«
»Und Ihre Frau.«
»Sie ist tot«, antwortete Niles. »Meine Tochter auch. Sie hatten weniger Glück als ich.« Er lächelte milde. »Es macht mir nichts aus, darüber zu reden«, sagte er, und es klang ehrlich. »Es ist lange genug her, wissen Sie?«
»Wer ist das?« mischte sich Skudder ein. »Ihr kennt euch?«
»Halt den Mund!« rief Mark und hob drohend die Hand, als wolle er Skudder schlagen. Niles winkte hastig ab.
»Sie sind manchmal wirklich etwas zu übereifrig, Mark«, sagte er mit sanftem Tadel. Er seufzte, drehte sich mühsam in seinem Stuhl um und bedachte Skudder mit einem langen, nachdenklichen Blick.
»Also Sie sind der legendäre Skudder«, sagte er schließlich. Er seufzte wieder. »Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, mich weder anzugreifen noch zu fliehen, wenn ich Mark Sie losbinden lasse?«
Mark sog scharf und hörbar erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch Skudder sah für einen Moment sehr verwirrt aus. Niles seufzte erneut.
»Ich hasse es, mit einem gefesselten Mann zu sprechen, Mister Skudder«, sagte er. »Habe ich Ihr Wort?«
Skudder nickte, und Niles machte eine neuerliche, befehlende Geste zu Mark. »Binden Sie sie los, Mark. Beide.«
»Aber ...«
»Bitte!« sagte Niles noch einmal. Seine Stimme klang eher ungeduldig als verärgert. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Mark. Auch ich habe schon eine Menge über Mister Skudder gehört - aber daß er sein Wort bricht, gehört nicht dazu.«
»Wie Sie meinen«, entgegnete Mark ärgerlich und machte sich an die Arbeit. Er öffnete Charitys und Skudders Handschellen und bezog wieder Posten.
»Es ist gut, Mark. Ich rufe Sie, wenn ich etwas brauche. Bitte lassen Sie uns allein.«
Mark wurde sichtlich blaß, widersprach aber nicht. Mit einem übertrieben zackigen Gruß drehte er sich herum und stampfte aus dem Raum, gefolgt von seinen drei Begleitern. Niles sah ihm kopfschüttelnd nach. Dann wandte er sich in fast entschuldigender Tonart an Skudder.
»Ein guter Mann, wenn auch manchmal etwas hitzig. Ihnen ist doch klar, daß ich nicht für Ihr Leben garantieren kann, nicht wahr?«
Skudder nickte. »Völlig klar. Aber wieso legen Sie Ihr Leben in meine Hände? Sie sind ein alter Mann - und ich könnte Ihr Genick brechen, ehe Sie auch nur um Hilfe rufen.«
»Kaum«, antwortete Niles überzeugt. »Und ich bin nicht ganz so schutzlos, wie Sie vielleicht glauben, Mister Skudder.« Er lächelte, schwenkte seinen Stuhl wieder zu Charity herum und sah sie an, und plötzlich begriff sie, daß sein kurzes Gespräch mit Skudder keinen anderen Sinn gehabt hatte, als ihr einige Sekunden Zeit zu verschaffen, mit ihrer Überraschung fertig zu werden.
»Wenn Sie wollen, lasse ich Mister Skudder hinausbringen«, sagte er. »Aber es wäre mir lieber, wenn er ...« Er warf Skudder einen raschen, schwer zu deutenden Seitenblick zu »... wenn er dabei wäre«, fuhr er nach einer winzigen Pause fort. »Im Gegensatz zu Mark und den meisten anderen hier bin ich nämlich nicht der Meinung, daß er ein blutrünstiger Barbar ist. Ganz im Gegenteil. Er ist ein guter Mann. Er steht nur auf der falschen Seite.«
Skudder wollte etwas sagen, aber Niles brachte ihn mit einem raschen Kopfschütteln zum Verstummen. »Hören Sie einfach zu, Mister Skudder. Ich bin sicher, Sie werden hinterher so manches mit anderen Augen sehen.«
Skudder zog eine Grimasse, entgegnete aber nichts.
»Was ist passiert?« fuhr Niles fort, wieder an Charity gewandt. »Sie waren im Kälteschlaf, nehme ich an?«
»Sie wissen davon?«
Niles nickte. »Es gibt nicht viel in dieser Station, von dem wir nichts wissen«, antwortete er mit sanftem Tadel. »Wir hatten Zeit genug, sie zu erkunden. Wir haben einen Großteil wieder aufgebaut, wissen Sie? Leider ist es uns nie gelungen, in den Raum mit den Hibernationstanks vorzudringen. Aber ich dachte, es wäre leichter zu sterben. Aber das ist es nicht.«
»Es wäre nicht gegangen«, sagte Charity leise. »Der Hubschrauber war zu klein.«
»Ich weiß«, sagte Niles. »Trotzdem - ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie nicht zurückgekommen sind. Ich ... weiß nicht, was ich getan hätte. Vielleicht wäre ich wirklich zum Feigling geworden und hätte meine Familie im Stich gelassen. Aber so konnte ich es nicht. Und eine halbe Stunde später spielte es sowieso keine Rolle mehr.«
Obwohl er das Gegenteil behauptet hatte, spürte Charity, wie schwer es ihm fiel, über jenen Tag zu sprechen. Aber sie unterbrach ihn nicht. Schlimmer als der Schmerz der Erinnerung, den er jetzt spürte, mußten die Jahrzehnte gewesen sein, in denen er mit niemandem darüber hatte reden können.
»Plötzlich war alles tot«, fuhr er fort, mit leerem Blick und leiser, zitternder Stimme. »Es war ... eine Art Strahlung. Erinnern Sie sich an das Haus voller Toter, das wir in der Bronx gefunden haben?«
Charity nickte.
»Es war dasselbe«, fuhr Niles fort. »Eine Art ... graues Leuchten, anders kann ich es nicht beschreiben. Zuerst hielt ich es für Gas, aber das war es nicht. Es ... es war überall, und es tötete nur Menschen. Keine Pflanzen. Keine Tiere, nur Menschen. Sie fielen einfach um und waren tot, von einer Sekunde auf die andere. Aber nicht alle. Meine Tochter starb, und alle unsere Nachbarn, aber meine Frau und ich spürten nichts.«
»Es gab Überlebende in New York?« fragte Charity ungläubig.
Niles nickte und schüttelte fast gleichzeitig den Kopf. »Nicht in der City. Manhattan wurde ausgelöscht, aber wir ... wir lebten in den Randgebieten. Vielleicht war die Strahlung dort nicht mehr so stark.« Er zuckte die Achseln. »Viele überlebten. Viele flohen, aber manche blieben auch, wenigstens in den ersten Tagen. Bis die ...«
»Bis die Reiter kamen«, sagte Skudder.
Niles nickte. »Sie wissen davon?«
Skudder lächelte kalt. »Wenn Sie von demselben New York sprechen wie ich, ja. New York ist so etwas wie ihr Hauptquartier auf diesem Kontinent. Daniel kommt von dort.«
Niles' Blick nach zu urteilen, konnte er mit dem Namen Daniel noch weniger anfangen als Charity. Aber er nickte. »Bis sie kamen, ja«, bestätigte er. »Sie ... begannen irgend etwas zu bauen, und ihre Truppen machten Jagd auf uns. Sie haben viele getötet, aber sie haben auch viele entkommen lassen. Offensichtlich kam es ihnen nur darauf an, uns aus der Stadt zu verjagen. Meine Frau und ich gehörten jedenfalls zu denen, die entkommen konnten.«
Wieder stockte er, und wieder konnte Charity sehen, wie ihn die Erinnerung zu übermannen drohte. Diesmal dauerte es sehr lange, bis er sich wieder in der Gewalt hatte.
»Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, Charity«, sagte er dann mit veränderter Stimme. »Meine Frau starb wenige Wochen darauf, und ich irrte fast ein Jahr durch das Land, ehe ich mich bis hierher durchschlagen konnte. Als Sie und Mike sich in New York von mir verabschiedeten, da war ich bereit, zu sterben, und später, nachdem sie erst meine Tochter und dann meine Frau umgebracht hatten, da wollte ich es sogar, eine Zeitlang. Aber dann ... dann wollte ich nur noch überleben. Irgendwie und irgendwo, um es ihnen später einmal heimzuzahlen.«