Charity wartete nicht, bis er die Mechanik der ihm fremden Waffe ergründet hatte. Mit einem einzigen Satz war sie bei ihm, schlug ihm die MP aus der Hand und fegte ihn mit einem Tritt in die Kniekehlen von den Beinen. Als er stürzte, bückte sie sich nach der MP, wartete fast gemächlich, bis er sich wieder aufrichten wollte - und schlug ihm den Kolben in den Nacken. Nicht heftig genug, um ihn umzubringen, aber genug, ihm ein paar Stunden Schlaf und mächtige Kopfschmerzen zu bescheren. Blitzschnell richtete sie sich auf, drehte sich einmal um ihre Achse und schwenkte die Waffe hin und her.
Aber es war niemand mehr da, auf den sie schießen konnte.
Es dauerte eine Weile, bis Charity begriff, daß es vorbei war.
Und daß es beinahe endgültig vorbei gewesen wäre. Diesmal hatte sie nur Glück gehabt. Hätte der Ledermann nicht zufällig den falschen Knopf gedrückt ...
Sie ließ sich erschöpft gegen den Sattel einer der beiden Harleys sinken. Alles drehte sich um sie herum. Ihr Herz hämmerte, und in ihrem Mund war plötzlich ein Geschmack, als müsse sie sich übergeben. Der kurze Kampf hatte sie völlig ausgelaugt.
»Mein Gott«, flüsterte sie müde. »Ein Königreich für ein Zauberschwert und ein fliegendes Pferd.«
»Also«, sagte eine Stimme hinter ihr, »über das Zauberschwert können wir sprechen, aber wo ich ein fliegendes Pferd hernehmen soll, das weiß ich auch nicht so genau.«
Irgendwo in der Dunkelheit hinter ihr raschelte es. Charity fuhr hoch, riß die Waffe herum und schaltete den Lasersucher ein. Der fingernagelgroße rote Punkt huschte über Felsen und dürres Geäst und blieb auf einem faltigen Gesicht hängen, das große Ähnlichkeit mit einem alten Scheuerlappen hatte. »Nicht schießen!« quäkte ein dünnes, sehr erschrockenes Stimmchen. »Ich gehöre nicht zu den Sharks!«
Charity löste mit der Linken die Taschenlampe vom Gürtel, schaltete sie ein und richtete den Strahl auf die Gestalt, die hinter ihr aus den Büschen getreten war. Ihr Schrecken schlug in Staunen und Verwirrung um. Der Mann war ... eine Witzfigur, die irgend jemand zum Leben erweckt hatte.
Sein Gesicht war faltig und hatte einen unnatürlichen, fahlen Teint. Unter einer gewaltigen, weit vorgewölbten Stirn, die in eine makellos glänzende Glatze überging, blinzelten sie zwei winzige Äuglein hervor an, in denen nicht der kleinste Schimmer von Weiß war. Seine Nase sah so aus, als hätte jemand kräftig darauf herumgetrampelt, und der Mund des Mannes war dünn und spitz, die Lippen so hell, daß sie fast durchscheinend wirkten. Dahinter grinsten Charity die schlechtesten Zähne an, die sie jemals gesehen hatte. Alles in allem war dieser Schädel riesig, während der Körper des Fremden klein und spindeldürr war. Der Mann trug einen bis auf den Boden reichenden Umhang aus braunen und grauen Fetzen, aus dem nur seine Hände hervorragten. Sehr magere, fast graue Hände.
Das Scheuerlappengesicht verzog sich zu einer Grimasse.
»Verdammt, tu das Licht weg«, quäkte der Fremde, während er auf einen der bewußtlosen Motorradfahrer deutete. »Willst du, daß ihre Kumpel dich sehen und herkommen?«
Charity schaltete hastig die Lampe aus und überwand endlich ihren Schrecken. »Wer sind Sie?« fragte sie.
Der Zwerg antwortete nicht, sondern kam mit kleinen, trippelnden Schritten näher, wodurch er in den Lichtschein des Feuers geriet und Charity ihn genauer betrachten konnte. Neugierig beugte er sich über einen der bewußtlosen Motorradfahrer, stieß ihn unsanft mit dem Fuß an und nickte, als keine Reaktion erfolgte.
»Saubere Arbeit«, sagte er anerkennend. »Aber du solltest sie töten, solange du es noch kannst. Sie werden nicht erfreut sein, wenn sie aufwachen.«
Charity ignorierte seine Worte.
»Wer sind Sie?« fragte sie noch einmal.
»Wer ich bin?« Das graue Gesicht verzog sich zu etwas, das sein Besitzer wohl für ein Lächeln halten mochte. »Wo kommst du her, Süße, daß du noch nie von mir gehört hast? Aber egal - ich habe jedenfalls lange niemanden mehr getroffen, der so sauber mit den Sharks aufgeräumt hat wie du.«
»Das ist keine Antwort«, sagte Charity ärgerlich. Sie hob drohend die Waffe, aber der Zwerg schien ganz genau zu wissen, daß sie nicht vorhatte, sie zu benutzen. Er grinste noch breiter, kam mit trippelnden Schrittchen näher und verbeugte sich übertrieben tief vor ihr.
»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, schöne Unbekannte?« flötete er. »Mein Name ist Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte, Besorgungen aller Art, Informationen, Schwarzmarktware und Waffen, Drogen und Mietkiller gegen Aufpreis. Stets zu Diensten.«
Charity starrte Abn El Sowieso verblüfft an und fragte sich, ob sie das alles vielleicht nicht nur träumte.
»Meine Freunde nennen mich einfach nur Gurk«, fuhr der Kauz fort. »Und du gehörst natürlich dazu. Wer die Sharks so aufmischt wie du, den habe ich lieber zum Freund als zum Feind.«
»Aha«, sagte Charity.
Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte, Besorgungen aller Art, Informationen, Schwarzmarktware und Waffen, Drogen und Mietkiller gegen Aufpreis, lächelte wissend, wurde aber dann sehr schnell wieder ernst. »Du solltest hier verschwinden, Liebling«, sagte er. »Die Schüsse sind bestimmt meilenweit gehört worden. In ein paar Minuten dürfte es hier von Sharks wimmeln.«
Charity blickte erschrocken zu den drei reglosen Gestalten herüber. »Es gibt noch mehr solche Typen?« Die Lichter, die sie gesehen hatte, fielen ihr ein, noch ehe Gurk antwortete.
»Klar«, sagte der Gnom. »Wenn ich du wäre, würde ich mich verpissen, ehe sie hier sind. Es sei denn, du hast eine überzeugende Erklärung für das, was hier passiert ist.« Er seufzte. »Ist allerdings nicht einfach, einem arschgesichtigen Shark überhaupt irgend etwas zu erklären.«
Charity unterdrückte ein Grinsen. Gurks Ausdrucksweise war nicht unbedingt druckreif, aber sehr treffend. Und wahrscheinlich hatte er recht. Es würde schwierig werden, mit diesen Mad-Max-Imitatoren fertig zu werden.
»Verschwinde«, sagte Gurk noch einmal. »Hätte mich gerne noch ein bißchen mit dir unterhalten, aber ich bin auch nicht scharf darauf, die Sharks zu treffen. Wenn du mal was brauchst, dann wende dich an mich.«
»Und wie?« fragte Charity amüsiert. »Ich nehme nicht an, daß du im Telefonbuch stehst.«
»Frag einfach nach mir«, rief Gurk. »Hier kennt mich jeder.« Er wandte sich zum Gehen, dann zögerte er noch einmal. »Und noch einen Rat«, sagte er, »ausnahmsweise sogar kostenlos: Halte dich aus dem Norden fern. Dort wimmelt es von Sharks.«
Charity sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Sie war irgendwie verwirrt, aber auch amüsiert. Dabei glaubte sie keinen Augenblick, daß dieser El Gurk auch nur halb so harmlos war, wie er aussah. Aber sie glaubte auch zu spüren, daß er es ehrlich meinte.
Und so ganz nebenbei, dachte sie, hatte er verdammt recht mit seiner Warnung. Sie hatte die Scheinwerfer ja selbst gesehen, es gab noch mehr dieser Motorradtypen (Wie hatte Gurk sie genannt? Sharks?) Sie sollte sehen, daß sie wegkam.
Sie drehte sich um, machte ein paar Schritte vom Feuer weg und blieb dann noch einmal stehen. Nachdenklich betrachtete sie die drei rostzerfressenen Harleys, ging dann wieder zurück und schraubte die Ventile aus den Reifen von zweien. Außerdem schüttete sie eine Handvoll Sand in ihre Tanks. Die dritte Maschine ließ sie unbeschädigt.
Sie fühlte sich nicht besonders sicher, als sie in den Sattel des riesigen Motorrad-Ungetümes stieg. Der Schlüssel steckte. Die Maschine sprang sofort an, als sie den Starter betätigte. Das dumpfe Grollen mußte meilenweit zu hören sein. Und sie war nicht einmal sicher, daß sie mit dem Ding zurechtkam. Aber irgendwie hatte sie das ungute Gefühl, zu Fuß nicht allzuweit zu kommen.
Entschlossen legte sie einen Gang ein und gab Gas.
Als es ihr endlich gelungen war, die schwere Maschine wieder aufzurichten und zum zweiten Mal in den Sattel zu klettern, fuhr sie sehr viel vorsichtiger an.