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Und so, in Begleitung des Hunds Onan, der noch immer optimistisch den Knochen im Maul trug, kehrte Dodger in die Welt zurück. Natürlich waren gebrauchte Sachen gebraucht, wie man es auch drehte und wendete. Sie waren besser als Lumpen, aber nicht annähernd so gut wie gute Kleidung. Aber was war hier schon gut? Nichtsdestotrotz fühlte sich Dodger besser in seinen neuen gebrauchten Klamotten, obwohl sie an einer empfindlichen Stelle und auch unter den Armen zwickten. Trotzdem, diese Garderobe war prächtiger als alles, was er bisher getragen hatte, und hoffentlich der jungen Frau aus der Unwetternacht würdig.

Er eilte zur Gasse zurück und kletterte die wackelige Treppe zur Mansarde hinauf, wo Solomon ihn mit den Worten begrüßte: »Wer bist du, junger Mann?«

Auf dem Tisch lagen die Karten des Quartetts ausgebreitet. »Mmm … sehr interessant«, sagte Solomon. »Du hast mir da ein erstaunliches und mmm auch recht gefährliches Etwas präsentiert. Es ist mmm täuschend einfach, aber schon bald bahnt sich Unheil an.«

»Was?«, fragte Dodger und betrachtete die bunten Karten auf dem Tisch. »Es sieht nach Kinderkram aus. Ein Quartett, Glückliche Familie genannt. Was soll daran gefährlich und unheilvoll sein?«

»Eine ganze Menge, mein lieber Junge«, erwiderte Solomon. »Ich erkläre dir meine kleine Theorie. Jeder Spieler bekommt verschiedene Karten, und das Ziel des Spiels besteht offenbar darin, jeweils vier thematisch zueinander gehörende Karten zu sammeln, in diesem Fall die glückliche Familie. Man bringt sie zusammen, indem man die anderen Spieler fragt, ob sie eine bestimmte Karte haben. Auf den ersten Blick betrachtet, scheint es ein harmloses Spiel für Kinder zu sein, aber die ahnungslosen Eltern schaffen damit gute Voraussetzungen dafür, dass ihre Kinder Pokerspieler werden, oder schlimmer noch – Politiker.«

»Wieso?«

»Erlaube mir, es zu eluzidieren«, sagte Solomon. Er bemerkte Dodgers Verwirrung und fügte hinzu: »Ich meine, lass es mich erklären. Offenbar läuft die Sache folgendermaßen ab. Um die mmm glückliche Familie zu bekommen, muss man zunächst eine Familie wählen, zum Beispiel die mmm Bäckerfamilie. Man könnte glauben, dass du nur warten musst, bis du an die Reihe kommst, um dann nach der nächsten Karte zu fragen. Wie wäre es mit Miss Bun, der Tochter des Bäckers? Warum? Nun, als die mmm Karten verteilt wurden, hast du bereits Mister Bun bekommen, den Bäcker, und seine Tochter wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Aber aufgepasst! Wenn du nach einem Bun fragst, könnten deine mmm Gegenspieler auf den Gedanken kommen, dich ihrerseits nach einem Mitglied der Bun-Familie zu fragen. Vielleicht sammeln sie die Buns nicht selbst, sondern versuchen stattdessen, die mmm Dose-Familie zusammenzubekommen, deren Oberhaupt Mister Dose ist, der Doktor. Sie fragen dich nach einem Bun, obwohl sie einen Dose brauchen, weil sie deine Vorliebe für die Buns bemerkt haben. Als sie an die Reihe kommen, hätten sie gern nach mmm einem Dose gefragt, aber stattdessen nutzen sie die Gelegenheit, dich zu täuschen und dir gleichzeitig einen kostbaren Bun abzunehmen.«

»Ach, ich würde einfach lügen und behaupten, gar keinen Bun zu haben«, sagte Dodger.

»O nein! Wenn sich das Spiel dem Ende nähert, würde sich herausstellen, dass du den betreffenden Bun mmm besessen hast, jawohl! Und das wäre sehr schade für dich. Du musst die Wahrheit sagen, denn wenn du nicht die Wahrheit sagst, kannst du das Spiel nie gewinnen. Und so wütet der schreckliche Kampf, und du ringst mit der Entscheidung, die Buns aufzugeben und es vielleicht mit dem Sammeln der Familie des Brauers Mister Bung zu versuchen, obgleich deine eigene Familie aus Abstinenzlern besteht. Du hoffst, dass es dir gelingt, mindestens einen deiner Gegner über deine wahren Absichten hinwegzutäuschen, während du gleichzeitig mmm davon ausgehen musst, dass die anderen Spieler nichts unversucht lassen, dir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Und so geht die grässliche Inquisition weiter. Der Sohn lernt, seinem Vater etwas vorzumachen. Die Schwester lernt, ihrem Vater zu misstrauen. Und die Mutter versucht zu verlieren, um den mmm Frieden zu wahren. Und ihr dämmert allmählich, dass Freude und Enttäuschung in den Gesichtern ihrer Kinder nur gespielt sind, damit die anderen Spieler nicht merken, welche Familien sie sich wünschen.«

»Nun ja«, sagte Dodger, »das ist wie Feilschen auf dem Markt. So machen’s alle.«

»Und so endet das Spiel zweifellos mit Tränen, von Geschrei und dem Zuschlagen von Türen ganz zu schweigen. Was hat das mit einer glücklichen Familie zu tun? Was genau ist erreicht worden?« Solomon hielt inne, erregt und mit gerötetem Gesicht.

Dodger dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Es ist doch nur ein Kartenspiel. Kartenspiele sind nicht wichtig. Ich meine, sie haben nichts mit der Welt zu tun.«

Solomon ließ sich von diesem Hinweis nicht besänftigen. »Ich habe es nie gespielt, aber wie dem auch sei: Ein Kind, das es mit seinen Eltern spielt, muss lernen, Vater und Mutter zu täuschen. Wie kann man so etwas nur ein Spiel nennen?«

Dodger überlegte erneut. Ein Spiel. Kein Glücksspiel wie das Werfen von Würfeln, wobei man Geld gewinnen konnte. Aber ein Spiel für die Familie? Wer hatte Zeit für Familienspiele? Nur Kinder oder Abkömmlinge von feinen Pinkeln. »Es ist trotzdem nur ein Spiel«, wandte er ein und erntete dafür einen starren Blick von Solomon. Es war einer dieser besonderen Blicke, die, wenn man nicht aufpasste, den ganzen Kopf durchbohrten und hinten wieder herauskamen.

»Wo liegt der Unterschied, wenn man sieben Jahre alt ist?«, fragte Solomon. Der alte Mann grollte noch immer und richtete den Finger Gottes auf Dodger. »Junger Mann, die Spiele, die wir spielen, sind Lektionen, die wir zu lernen haben. Unsere Annahmen und Vermutungen, die Geschehnisse, denen wir keine Beachtung schenken, und die anderen, auf die wir Einfluss nehmen … das alles macht uns zu jenen, die wir sind.«

Das war biblischer Kram, ganz klar. Aber als Dodger darüber nachdachte … Wo lag der Unterschied? Das ganze Leben war ein Spiel. Aber wenn es ein Spiel war, in welche Rolle schlüpfte man dann – in die des Spielers oder der Figur auf dem Spielbrett? Ihm schwante, dass Dodger vielleicht mehr sein konnte als nur Dodger, wenn er sich richtig bemühte. Es war wie ein Ruf zu den Waffen, und der Ruf lautete: Beweg deinen Hintern!

Als Dodger die Mansarde verließ und in Onans Begleitung mit seinen neuen Klamotten einherstolzierte, dachte er daran, dass man eins von dieser schmutzigen, alten Stadt behaupten konnte: Jemand sah immer alles. Die Straßen waren so voll, dass er mit den Schultern gegen Leute stieß, bis er gar keine Schultern mehr hatte, und er kannte einige Örtlichkeiten, wo sich ein bisschen Schulterstoßen lohnen konnte, zum Beispiel im Baron of Beef, Goat, Sixpence oder in einem der anderen gesunden Trinklokale bei den Docks, wo man für einen Sixpence sinnlos betrunken und für einen Shilling zu einer Bierleiche werden konnte. Obwohl, zu einer Leiche wurde man vielleicht ohnehin, weil man so dumm gewesen war, eine solche Spelunke zu betreten.

An jenen Orten hingen die Tosher und Gassenjungen mit den Mädchen herum und trennten sich dabei von ihrem hart erarbeiteten Geld. Sie besuchten jene Kaschemmen, weil sie die Ratten und den Dreck vergessen wollten, der an allem klebte, und natürlich den Geruch. An den man sich allerdings nach einer Weile gewöhnte. Leichen, die sich eine Zeit lang im Fluss befunden hatten, neigten zu einem Duft eigener Art, und nie vergaß man den Gestank der Fäulnis, denn er klammerte sich an einem fest, man wurde ihn einfach nicht mehr los. Man wollte ihn nie wieder riechen, obwohl man wusste, dass man schon bald zu ihm zurückkehren würde.