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Der Geruch des Todes hatte seltsamerweise ein sonderbares Eigenleben – er fand einen Weg überallhin, und man konnte ihm nur schwer entkommen. In dieser Hinsicht ähnelte er dem Gestank von Onan, der treu und brav hinter Dodger herlief. Der Umstand, dass sich die Leute, an denen er vorbeikam, nach dem Ursprung des schrecklichen Geruchs umsahen – in der verzweifelten Hoffnung, dass er nicht von ihnen selbst stammte –, wies deutlich auf seine Anwesenheit hin.

Aber jetzt schien die Sonne, und einige der Jungs und Mädchen tranken draußen vor dem Gunner’s Daughter, wo sie auf alten Fässern, Seilrollen, Stapeln aus halb verfaultem Holz und anderem Uferschutt saßen. Manchmal gewann Dodger den Eindruck, dass es sich bei Stadt und Fluss um dasselbe Geschöpf handelte, mit dem einen Unterschied, dass manche Teile feuchter waren als andere.

In dem bunt zusammengewürfelten, schmutzigen, aber fröhlichen Haufen erkannte er den Krummen Henry, Lucy Springer, den Einarmigen Dave, Prediger, Mary Drehdichschnell, die Dreckige Dory und Mangel. Woran sie gerade gedacht und worüber sie gerade gesprochen hatten, es spielte keine Rolle, denn als sie Dodger in seinen neuen Klamotten sahen, die ihn fast zum feinen Pinkel machten, sagten sie: »Meine Güte, wer ist der hübsche Herr dort?« und »Lieber Himmel, hast du die Straße gekauft? Dunnerschlach, wie gut du riechst!« und natürlich »Kannst du uns einen Shilling leihen? Ich zahle ihn dir am Sankt Nimmerleinstag zurück.« Auf diese Weise ging es eine Zeit lang weiter, und man konnte so etwas nur überleben, wenn man dümmlich grinste und alles in dem Wissen über sich ergehen ließ, dass man den Spuk jederzeit beenden konnte. Und Dodger beendete ihn tatsächlich.

»Opa ist tot.« Er ließ die Nachricht vom Himmel auf sie herabfallen.

»Unmöglich!«, entfuhr es dem Krummen Henry. »Ich bin erst vorgestern mit ihm toshen gewesen, kurz vor dem Unwetter.«

»Und ich habe ihn heute gesehen«, widersprach Dodger in scharfem Ton. »Ich hab ihn sterben sehen, unmittelbar vor mir! Er war dreiunddreißig! Dass mir niemand behauptet, dass er noch lebt, denn er is tot, klar? Drüben unter Shoreditch, in der Nähe des Mahlstroms.«

Mary Drehdichschnell brach in Tränen aus. Sie war ein anständiges Mädchen und erweckte immer den Eindruck, den Kopf woanders zu haben und gerade erst eingetroffen zu sein. Im Frühling verkaufte sie den Frauen Veilchen, und während des restlichen Jahres verkaufte sie alles, was sie in die Finger kriegen konnte. Als Taschendiebin hatte sie richtig was auf dem Kasten, denn sie sah aus wie ein Engel, der etwas auf den Kopf gekriegt hatte, und deshalb geriet sie nie in Verdacht. Aber wie man sie auch sah, sie hatte mehr Zähne als Grips, und ihre Zahnlücken waren bereits beträchtlich. Was die anderen betraf … sie wirkten nur noch etwas elender als vorher und starrten zu Boden, als wollten sie sich unsichtbar machen.

»Er hat mir seinen Fund überlassen, viel war’s nicht.« Voller Unbehagen, als genügten diese Worte nicht, fügte Dodger hinzu: »Deshalb bin ich hier – um euch einen auszugeben, damit ihr auf sein Wohl trinkt.« Dieser Hinweis hob die allgemeine Stimmung ganz erheblich, vor allem als Dodger in die Tasche griff und sich von einer Sixpencemünze trennte, die wie durch Magie Krüge herbeizauberte, gefüllt mit einer zähflüssigen Flüssigkeit, die fast Brei zu nennen war.

Während besagte Krüge mit unterschiedlichen Gluck-Geräuschen geleert wurden, bemerkte Dodger, dass Mary Drehdichschnell noch immer schniefte, und da er ein freundlicher Typ war, sagte er sanft: »Wenn es dir hilft, Mary … Er lächelte, als er starb. Und er glaubte die Lady zu sehen.«

Diese Mitteilung befreite Mary nicht von ihrem Leid. Zwischen zwei Schluchzern sagte sie: »Der Doppelte Henry hat hier gerade Pause gemacht, um was zu essen und Brandy zu trinken. Den Brandy brauchte er, weil er schon wieder ein Mädchen aus dem Fluss gezogen hat.«

Dodger seufzte. Der Doppelte Henry war ein Fährmann, der auf der Suche nach Fahrgästen, die übergesetzt werden wollten, ständig die Themse hinauf- und hinunterruderte. Der Rest von Marys Nachricht war leider sehr vertraut. Die Gruppe von mehr oder weniger Gleichaltrigen, mit der Dodger Umgang pflegte, bestand aus taffen Leuten, die zu überleben gelernt hatten. Aber die Stadt und ihr Fluss konnten zu jenen, die diese Eliteschule nicht mit Erfolg abgeschlossen hatten, sehr unbarmherzig sein.

»Er vermutet, dass sie in Putney von der Brücke gesprungen ist«, sagte Mary. »War wahrscheinlich schwanger.«

Dodger seufzte erneut. Die meisten jungen Frauen, die man aus dem Fluss fischte, waren schwanger. Sie kamen aus fernen Orten mit seltsamen Namen wie Berkhamsted und Uxbridge und hofften, in London ein besseres Leben zu finden als ein Dasein zwischen Heuhaufen. Aber wenn sie hier eintrafen, schnappte die Stadt zu, fraß sie mit Haut und Haaren und spuckte sie wieder aus, meistens in die Themse.

Ein angenehmer Tod war das bestimmt nicht, zumal man nur deshalb behaupten konnte, der Inhalt der Themse sei Wasser, weil er flüssiger war als Dreck. Wenn die Leichen an die Oberfläche kamen, mussten die armen Fährleute und Kahnführer sie mit Landungshaken an Bord ziehen und zu einem Coroner bringen. Es gab eine Belohnung dafür, wenn man solche traurigen sterblichen Überbleibsel zum Büro eines Gerichtsmediziners brachte. Der Doppelte Henry hatte Dodger einmal erzählt, dass es sich manchmal lohne, die Leiche über eine längere Strecke zu rudern – zu dem Verwaltungsbezirk, der am meisten dafür bezahlte. Aber in den meisten Fällen ging die Fahrt zum Coroner von Four Farthings, der dann eine Todesanzeige aufgab, die es manchmal sogar in die Zeitung schaffte. Die Leichen der Mädchen und jungen Frauen endeten vielleicht auf dem Crossbones Graveyard oder bekamen auf irgendeinem anderen Friedhof ein Armenbegräbnis. Manchmal aber, und das war allgemein bekannt, landeten sie in einem Lehrkrankenhaus auf dem Seziertisch, damit Medizinstudenten sie aufschneiden konnten.

Mary flennte noch immer, und von gelegentlichem Schluchzen und Schniefen untermalt sagte sie: »Es ist so traurig. Sie haben alle langes blondes Haar. Alle Mädchen vom Land haben langes blondes Haar, und sie sind auch … ihr wisst schon … unschuldig.«

»Ich war auch mal unschuldig«, warf die Dreckige Dory ein. »Hat mir aber nichts genutzt. Dann wurde mir klar, was ich falsch gemacht habe.« Sie fügte hinzu: »Aber ich bin hier auf den Straßen geboren und wusste, womit es zu rechnen gilt. Die armen blonden Unschuldigen, sie ham nicht die geringste Hoffnung auf einen günstigen Ausgang, sobald ihnen der erste Bursche Fusel einflößt.«

Mary Drehdichschnell schniefte erneut. »’n Typ hat einmal versucht, mich mit Fusel gefügig zu machen, aber ihm wurde das Geld knapp, und ich hab ihm den Rest abgeknöpft, während er schlief. Die beste Uhr mit der besten Kette, die ich je gestohlen habe«, fuhr sie fort. »Die armen Mädchen, sie sind nicht hier geboren wie wir, sie haben keine Ahnung.«

Ihre Worte erinnerten Dodger an Charlie. Dann dachte er an Solomon und daran, was er gesagt hatte. Wie in die leere Luft sprach Dodger: »Ich sollte das Toshen aufgeben …« Er sprach nicht weiter, als ihm klar wurde, dass die Worte vor allem ihm selbst galten. Was könnte ich tun?, fragte er sich. Immerhin, jeder muss arbeiten, jeder muss essen und leben.

Oh, das Lächeln auf Opas Gesicht … Was hatte er in dem letzten Lächeln gesehen? Angeblich hatte er die Lady erblickt. Jeder Tosher kannte jemanden, der die Lady gesehen hatte, aber solche Berichte stammten immer aus zweiter Hand – die Erzähler waren der Lady nie selbst begegnet. Trotzdem wussten alle Tosher, wie sie aussah. Sie war recht groß und trug ein glänzendes Gewand, wie aus Seide. Sie hatte wunderschöne blaue Augen, und ein feiner Nebel umgab sie. Wenn man auf ihre Füße blickte, so stellte man fest, dass Ratten auf ihren Schuhen hockten. Es hieß, dass sie gar keine richtigen Füße hatte, sondern Rattenkrallen. Aber Dodger wusste, dass die Tosher nie den Mut hätten, auf die Füße der Lady zu starren, um sich Gewissheit zu verschaffen. Sie fürchteten sich davor, dass es wirklich Rattenfüße waren.