Alle diese Ratten, die einen beobachteten und dann sie ansahen. Vielleicht, nur vielleicht – man konnte nie wissen – genügte ein Wort von ihr, um die Ratten loszulassen. Ein Wort, um die Ratten auf einen zu hetzen, wenn man ein böser Tosher gewesen war. Und wenn man ein guter Tosher war, dann lächelte sie und gab einem einen Kuss (oder weit mehr als nur einen Kuss, wie manche behaupteten). Und von jenem Tag an hätte man beim Toshen immer Glück.
Dodger dachte wieder an die armen Mädchen, die von den Brücken in den Tod sprangen. Viele von ihnen erwarteten ein Kind … An dieser Stelle angelangt, ließ er den Gedanken los, weil das Barometer seines Wesens immer in Richtung heiter tendierte. Im Großen und Ganzen hatte er Kummer immer auf Abstand zu halten versucht, und außerdem warteten dringende Angelegenheiten auf ihn.
Doch sie waren nicht dringend genug, ihn daran zu hindern, den Krug zu heben und zu rufen: »Auf Opa, wo auch immer er sich gerade herumtreibt!« Die anderen stimmten mit ein, vermutlich in der Hoffnung auf eine weitere Runde. Doch sie wurden enttäuscht, denn Dodger fügte hinzu: »Hört mir mal zu! In der Nacht des großen Unwetters hat jemand eine junge Frau zu töten versucht, ich schätze, eine von den Unschuldigen, über die wir gerade gesprochen haben. Aber sie rannte weg, und ich fand sie, und nun kümmert man sich um ihr Wohl.« Er zögerte angesichts einer Mauer des Schweigens, und mit schwindender Hoffnung fuhr er fort: »Sie hat goldenes Haar, und irgendwelche Unbekannten haben sie halb tot geprügelt. Ich möchte den Grund dafür herausfinden, weil ich den Schlägern eine Abreibung verpassen will. Und ihr sollt mir dabei helfen.«
An dieser Stelle bekam es Dodger mit einem wundervollen Stück Straßentheater zu tun, bei dem kaum ein Wort gesprochen wurde und das in drei Akten stattfand. Der erste Akt hieß Ich weiß nichts und der zweite Ich habe überhaupt nichts gesehen. Den Abschluss bildete das beliebte Ich habe nie nichts getan. Als Zugabe präsentierte das Ensemble den Dauerbrenner Ich war nicht dort.
Dodger hatte Ähnliches erwartet, sogar von seinen gelegentlichen Kumpeln. Es war nicht persönlich gemeint, aber niemand mochte ausgehorcht werden, erst recht dann nicht, wenn eines Tages vielleicht Fragen gestellt wurden, die einen selbst betrafen. Aber diese Sache war wichtig für ihn, und deshalb schnippte er mit den Fingern, womit er Onan ein Zeichen gab. Der Hund knurrte – ein Laut, den man von einem eher kleinen Geschöpf wie ihm nicht erwartete, sondern eher von einem Ungetüm, das aus den Meerestiefen aufstieg, und zwar mit großem Appetit. Ein scheußliches Grollen lag in diesem Geräusch, und es hörte nicht auf. Jetzt sagte Dodger mit einer Stimme, so flach, wie das Grollen tief war: »Hört mir zu, ja? Hier spricht Dodger, ja, ich bin’s, euer Freund Dodger. Die junge Frau hat goldenes Haar, und ihr Gesicht war schwarz und blau.«
Dodger entdeckte Panik in den Augen der anderen, als hielten sie ihn für übergeschnappt. Doch dann veränderte sich das große runde Gesicht der Dreckigen Dory, als sie etwas so Unerwartetes wie einen Gedanken in den Griff zu bekommen versuchte.
Sie hatte nie besonders viele. Um ihre wenigen Gedanken zu erkennen, hätte man vermutlich ein Mikroskop gebraucht – Dodger hatte einmal eins bei einer Schaustellergruppe gesehen. Es waren immer irgendwo Schausteller unterwegs, denn ihre Buden und Vorstellungen erfreuten sich großer Beliebtheit, und in diesem Fall hatte Dodger in einen Apparat geblickt, der Dinge vergrößerte. Man blickte durch ihn in ein Glas Wasser, und wenn sich die Augen angepasst hatten, erkannte man winzige schlängelnde Wesen im Wasser, die sich hin und her wanden, sich drehten, sprangen und einen seltsamen Tanz aufführten. Sie schienen dabei eine Menge Spaß zu haben, und der Mann, der dem staunenden Publikum das Mikroskop zeigte, hatte erklärt, dies beweise eindeutig, wie gut das Wasser der Themse sei, wenn so viele kleine Geschöpfe darin überleben konnten.
Für Dodger war Dorys Geist ein bisschen auf diese Weise beschaffen: größtenteils leer, aber gelegentlich mit etwas Zappelndem darin. »Nur zu, Dory!«, rief er ermutigend.
Sie sah sich um, aber alle wichen ihrem Blick aus. Dodger verstand seine Kumpane – in gewisser Weise. Niemand wollte bezichtigt werden, bestimmte Beobachtungen ausgeplaudert zu haben. Manche Leute hatten etwas dagegen, dass man sie herumerzählte. Es gab nämlich weitaus schlimmere Zeitgenossen als Gassenkinder und Tosher, Kerle, die gut mit Klinge oder Rasiermesser umzugehen wussten und in deren Augen jeder Funke von Gnade fehlte.
In den Augen der Dreckigen Dory erschien die ihr eigene Entschlossenheit. Sie hatte kein goldenes Haar. Eigentlich hatte sie überhaupt nicht viel Haar, und die wenigen ihr verbliebenen Strähnen waren fettig und bildeten sonderbare kleine Schmachtlocken. Dory zupfte an einer dieser Locken, starrte die anderen trotzig an und sagte: »Am Tag vor dem Unwetter hab ich mich auf der Promenade nach einer günstigen Gelegenheit umgesehen, und da kam ’ne elegante Kutsche vorbei, und die Tür stand offen, wisst ihr, und dann sprang da diese junge Frau heraus und rannte über die Straße, als wäre der Teufel hinter ihr her, klar? Und zwei Typen stürzten hinter ihr aus der Kutsche, ja, und verfolgten sie, stießen dabei Fußgänger zur Seite, als täte es überhaupt keine Rolle spielen.« Die Dreckige Dory hielt inne, hob die Schultern und gab damit zu verstehen, dass sie fertig war. Die anderen drehten den Kopf von einer Seite zur anderen und sahen sich um, ohne den Blick auch nur einmal auf sie zu richten. Es sollte kein Zweifel aufkommen, dass sie nichts mit diesem seltsamen und gefährlich redseligen Mädchen zu tun hatten.
Aber Dodger fragte: »Welche Art von Kutsche?«
Er hielt sein Augenmerk auf Dory gerichtet, denn andernfalls wäre sie plötzlich sehr vergesslich geworden. Nachdem die Dreckige Dory ihre Erinnerungen ordentlich gerüttelt und gesiebt hatte, erfuhr Dodger Folgendes: »Teuer, edel, zwei Pferde.« Dory schloss den Mund fest, ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie ihn nicht wieder zu öffnen gedachte, es sei denn, es gab noch mehr zu trinken. Dodger fiel es leicht, ihre Gedanken zu lesen; schließlich hatte sie nicht so viele davon. Er ließ die restlichen Münzen in seiner Tasche klimpern – eine internationale Sprache –, und in Dorys rundem, traurigem Gesicht ging ein weiteres Licht auf. »Komische Sache bei der Kutsche. Als sie fortrollte, kam ein Quietschen von den Rädern, fast so schlimm wie ein Schwein, das abgestochen wird. Ich hab’s die ganze Straße entlang gehört.«
Dodger dankte ihr, überließ ihr einige Kupfermünzen und nickte den anderen zu. Sie erweckten den Eindruck, als hätte sich bei ihnen gerade ein Mord ereignet.
Mit den Münzen in der Hand sagte die Dreckige Dory plötzlich: »Da fällt mir noch was ein. Die junge Frau schrie, aber man konnte nichts verstehen, weil es was Ausländisches war. Und der Kutscher, auch er war kein Engländer.« Sie warf Dodger einen scharfen, bedeutungsvollen Blick zu, und er gab ihr zwei zusätzliche Viertelpennys, wobei er sich fragte, ob er diese notwendigen Ausgaben wohl von Mister Charlie zurückbekäme. Natürlich musste er darüber Buch führen, denn Charlie war gewiss kein Mann, der sich etwas vormachen ließ.
Als er fortging, überlegte Dodger, ob er Mister Charlie besuchen sollte – immerhin hatte er wichtige Neuigkeiten, oder etwa nicht? Neuigkeiten, deren Erwerb ihn Geld gekostet hatte, sogar eine ganze Menge, und vielleicht waren sie noch mehr wert, wenn er sie ein bisschen aufpolierte. Obgleich er wusste, dass es nicht vernünftig gewesen wäre, ehrgeizig zu werden und sich zu viel Geld zu erhoffen …
Er langte in die Tasche, einen Behälter, der alles enthielt, was Dodger hineinstopfen konnte. Dort war es, das rechteckige Stück Pappe. Sorgfältig identifizierte er die einzelnen Buchstaben und auch die Zahlen. Alle wussten, wo sich die Fleet Street befand, denn dort wurden die Zeitungen gedruckt. Doch für Dodger war es vor allem ein halbwegs anständiges Gebiet fürs Toshen, mit einigen nützlichen Tunneln in der Nähe. Der Fleetfluss war Teil der Kanalisation, und Dodger fand es immer wieder erstaunlich, was darin so alles herumschwamm. Voller Wonne erinnerte er sich daran, dort einmal ein Armband mit zwei Saphiren und bei einer anderen Gelegenheit einen ganzen Sovereign gefunden zu haben. Das machte jene Gegend zu einer guten, glücklichen Gegend, wenn er bedachte, dass die Ausbeute eines ordentlichen Toshertags aus lediglich einer Handvoll Viertelpennys bestand.