Und so begnügte er sich damit zu warten. Bis ein Mann mit einer Maske, die sein halbes Gesicht bedeckte, durch die Tür stürmte – der Türsteher war in eine nahe Gasse pinkeln gegangen, hastete gerade zurück und fummelte dabei an den Knöpfen seines Hosenschlitzes herum. Der Maskierte richtete ein Messer auf den obersten Angestellten und rief: »Her mit dem Geld, oder ich schlitze dir den Bauch auf! Und niemand rührt sich!«
Es war ein großes Messer, ein Brotmesser mit Wellenschliff, wie geschaffen für einen Haushalt, in dem ein Laib Brot aufgeschnitten werden sollte, aber nicht minder gut geeignet, einen Menschen zu durchbohren, fand Dodger. In der sich ausbreitenden entsetzten Stille wurde ihm klar, dass der Maskierte die größte Angst ausstand, während er alle Angestellten gleichzeitig im Auge zu behalten versuchte. Dem neben der Tür sitzenden Jungen schenkte er keine Beachtung.
Dodger dachte: Er weiß nicht, was er tun soll, und glaubt vielleicht, einen dieser Trottel, die ihn anstarren und sich in die Hose machen, niederstechen zu müssen. Und er weiß auch, was mit ihm passiert, wenn er jemanden absticht – dann endet er im Gefängnis Newgate und baumelt dort am Galgen. Diese Gedanken rauschten wie ein Eisenbahnzug durch Dodgers Kopf, und gewissermaßen im Schaffnerabteil reiste die Erinnerung an diese Stimme und den mit ihr einhergehenden Geruch nach Gin. Und er wusste, dass der Mann eigentlich gar kein schlechter Kerl war, und er wusste auch, was ihn zu einer derartigen Verzweiflungstat getrieben hatte.
Dodger sah nur eine Möglichkeit. Er riss den Nagel vom nächsten Schreibtisch und hielt ihn so an den schweißfeuchten Hals des Mannes, dass die Spitze in die Haut piekte. Dann raunte er dem Möchtegerndieb mit gedämpfter Stimme ins Ohr: »Lass das Messer fallen, jetzt sofort, wenn du nicht durch drei Nasenlöcher atmen willst. Sieh mich an – ich bin’s, Dodger! Du kennst mich. Dodger, kapiert?« Lauter sagte er: »So etwas dulden wir hier nicht, du Mistkerl!«
Er konnte die Erleichterung des Mannes geradezu riechen, und zweifellos roch er reichlich Gin, als er ihn nach draußen in den Nebel zerrte. Die Angestellten schrien Zeter und Mordio, und Dodger rief: »Ich halte ihn fest, keine Sorge!« Schnellen Schrittes ging er weiter, zerrte den Mann am Türsteher vorbei, der roten Zorn im Gesicht hatte, und in die nächste Gasse, wo er den verhinderten Dieb – der, so sollte an dieser Stelle betont werden, ein wenig durch sein Holzbein mit dem Metallstück am Ende behindert war – in eine dunkle Ecke drückte.
Die Gasse roch wie alle Gassen, vor allem nach Verzweiflung und Ungeduld und inzwischen auch nach Onan, der gerade eine Duftmarke gesetzt und den Gassengerüchen damit einen preisverdächtigen Gestank hinzugefügt hatte. Zum Glück legte der Nebel eine Decke darüber. Es stank natürlich, aber das galt auch für den Mann, der offenbar nicht nur seine Blase entleert hatte.
Zufrieden hörte Dodger ein Geräusch, das nur von einem zu Boden fallenden Messer stammen konnte. Er trat es in die Dunkelheit, packte den Mann am Kragen, zog ihn zum anderen Ende der Gasse, über die Straße und in eine Ecke.
»Holzbein Higgins!«, sagte er. »Der Schlag soll mich treffen, wenn du nicht der dümmste Dieb bist, dem ich je begegnet bin. Wenn du noch einmal einen so verdammten Mist baust, wird es damit enden, dass die Gefängniswärter unter deinen baumelnden Beinen singen, du Blödmann!« Dodger schniefte und stöhnte. »Verflixt und zugenäht, Holzbein, auf was hast du dich da bloß eingelassen? Und überhaupt … Wann hast du dich das letzte Mal gewaschen? Oder im Regen gestanden – oder deine Hose gewechselt?« Er sah in zwei Augen voller Katarakte und seufzte. »Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?«
Holzbein Higgins brummte etwas davon, kein Bettler sein zu wollen, und Dodger hätte es fast mit ihm aufgegeben. Doch vor dem inneren Auge sah er noch einmal den sterbenden Opa.
»Hier hast du einen Sixpence«, sagte er. »Damit solltest du was in den Magen kriegen und außerdem einen Platz in der Penne, wenn du’s nicht vertrinkst. Also gut, du armer Irrer, mach dich auf die Socken! Niemand ist hinter dir her. Bleib einfach in Bewegung und verlass dieses Viertel! Ich habe dich nie zuvor in meinem Leben gesehen, ich weiß nicht, wer du bist, und du scheinst es ebenfalls nicht zu wissen, so wie du aussiehst, du armer alter Teufel.« Dodger seufzte erneut. »Hör mal, wenn du was überfallen willst, solltest du nicht vor den Geschäftsstunden losschlagen, sondern danach, klar?«
Und das war’s. Dodger kehrte zum Chronicle zurück, und als er dort eintraf, war bereits ein Polizist da, und die Angestellten gaben ihm eine Beschreibung des Übeltäters, in der allerdings jeder Hinweis auf ein Holzbein fehlte. Ihre Version von Higgins schien gefährlicher zu sein als die, die Dodger kannte, und aus dem Brotmesser war doch tatsächlich ein Schwert geworden. Der Polizist bemühte sich, alle Einzelheiten zu notieren, was aber nicht leicht war, da die Angestellten durcheinanderredeten und er außerdem sehr langsam schrieb, wobei er Dodger im Auge behielt. Mit dem Schreiben haperte es bei ihm, aber er verstand sich sehr gut darauf, Leute wie Dodger zu erkennen.
Der wusste, was nun kam, und dann kam es tatsächlich, als der Polizist auf ihn deutete und fragte: »Dieser Herr war ein Komplize, ja?«
Die Angestellten sahen Dodger an, und etwas widerstrebend sagte ihr Chef: »Äh … nein, offen gestanden hat er den Übeltäter mit einem Büronagel bedroht und ihn verjagt.«
Der Polizist gefiel Dodger immer weniger, denn er sagte fröhlich: »Oh, dieser junge Mann war ebenfalls bewaffnet?«
»Äh … nein«, erwiderte der oberste Angestellte. »Ich meine einen Büronagel. Wir haben auf jedem Schreibtisch einen stehen.«
Die Treppe neben der Tür knarrte, und eine neue Stimme erklang. »Dieser junge Mann arbeitet für mich, Constable, und ich möchte hinzufügen, dass Mister Dodger mein volles Vertrauen genießt. Offenbar ist er ein Held von epischen Ausmaßen, der den Chronicle gerade davor bewahrt hat, von einem Schwerverbrecher ausgeplündert zu werden. Vermutlich sollte man ihn mit einer Medaille ehren – ich werde mit dem Herausgeber darüber sprechen. Derweil, meine Herren, hat Mister Dodger vertrauliche Informationen für mich, und ich würde gern mit ihm das Kaffeehaus aufsuchen und hören, was er zu berichten hat. Wenn Sie also so freundlich wären, uns beide zu entschuldigen …«
Charlie nickte dem Polizisten zu und ging los, gefolgt von dem verdutzten Dodger. Onan tappte hinter ihnen her, vielleicht in der Hoffnung, dass Dodger einen Weg durch den Nebel nahm, der früher oder später zu einem Knochen führte. Das Leben hielt für Onan selten die Belohnungen bereit, die er sich wünschte, und als Dodger ihn an einem Laternenpfahl festband, wurde klar, dass dies ein weiterer Beweis dafür war. Dodger beschloss, dem Hund bei nächster Gelegenheit einen anständigen Knochen zu besorgen.
Er hatte noch nie Kaffee getrunken, aber Solomon meinte, es sei nur schmutziges Wasser, und er konnte ihn sich ohnehin nicht leisten. Im Kaffeehaus gab es jede Menge davon, und der Raum war voller Leute und voller Stimmen – es ging ziemlich laut zu.
Charlie drückte Dodger auf einen Stuhl, setzte sich neben ihn und sagte: »Niemand hört, was du sagst, denn hier reden alle gleichzeitig, und diejenigen, die gerade nicht reden, schweigen nur, weil sie überlegen, was sie als Nächstes sagen sollen. Hat es einen Sinn, nach den Hintergründen der kleinen Episode zu fragen, die sich gerade beim Chronicle abgespielt hat, oder sollten wir es in den Schleier des Geheimnisvollen hüllen? Übrigens, hast du jemals von einem Mann namens Napoleon gehört? Nimm ruhig mehr Zucker, und wenn die Schale leer ist, bringt man uns eine neue. Diese neuen Zuckerwürfel sind wirklich toll, nicht wahr?«
Dodger hörte damit auf, sich die Taschen mit den gerade erwähnten Zuckerwürfeln vollzustopfen. »Napoleon, ja«, sagte er. »Ein Franzmann, General oder so. Deshalb haben wir alte Knacker auf den Straßen, die betteln, manchmal mit einem Messer, stimmt’s?«