»Wollen Sie dies in Ihrem kleinen Notizbuch aufschreiben, Mister?«
»Keineswegs, junger Freund. Es ist reine Anteilnahme an den Menschen, die mich zum Fragen veranlasst.«
Man erzähle nie jemandem mehr, als er unbedingt wissen muss. An diese Devise glaubte Dodger. Aber nie zuvor in seinem Leben war er einem Außenstehenden begegnet, der so schnell sein Vertrauen gewann, und deshalb beschloss er in dieser neuen Welt, die sich ständig veränderte, seine übliche Zurückhaltung aufzugeben.
»Ich bin bei einem Kaminkehrer in die Lehre gegangen, weil ich so dünn war, wissen Sie«, sagte er, »und nach einer Weile bin ich weggelaufen, aber vorher bin ich durch den Kamin in ein Schlafzimmer geklettert, in ein piekfeines Schlafzimmer, und hab einen Diamantring vom Nachtschränkchen stibitzt. Und ich sage Ihnen, Sir, das mit dem Weglaufen war die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe, denn Kamine und Schornsteine sind nicht die richtige Umgebung für einen Heranwachsenden. Der Ruß … man kriegt ihn überallhin, Sir, überallhin. Er gerät in alle Fugen und Ritzen, Sir, und er ist gefährlich. Setzt dem Piepmatz auf scheußliche Weise zu, und das weiß ich, weil ich einige Jungs kenne, die beim Kaminkehren geblieben sind, und sie waren echt übel dran. Aber dank der Lady bin ich rechtzeitig entkommen.« Dodger hob abermals die Schultern und fuhr fort: »So war das Leben. Was den Diamantring betrifft … Als ich ihn zum Hehler brachte, sagte der, ich hätte Talent, und er legte mir nahe, ein Snakesman zu werden. Das ist …«[2]
»Ich weiß, was ein Snakesman ist, Dodger. Aber wie bist du von dort aus zum Toshen gekommen, wenn ich fragen darf?«
Dodger holte tief Luft und atmete die Asche der Vergangenheit. »Ich geriet wegen einer gestohlenen Gans in Schwierigkeiten und wurde gejagt, nur weil Federn an mir klebten, und deshalb versteckte ich mich in der Kanalisation, verstehen Sie? Die Verfolger schafften es nicht bis nach unten, weil sie zu dick und auch zu betrunken waren, meiner Meinung nach. Dann fand ich das mit dem Toshen heraus und … Nun, das wär’s auch schon, mehr oder weniger.«
Er hielt in Charlies Gesicht nach mehr als einem unverbindlichen Blick Ausschau, und dann schien der Mann aufzuwachen und sagte: »Und was wäre mit einem anderen Namen aus dir geworden, Dodger? Mit einem Namen wie Master Geoffrey Smith zum Beispiel oder Master Jonathan Baxter?«
»Ich weiß nicht, Sir. Wahrscheinlich eine ganz gewöhnliche Person, Sir.«
Daraufhin lächelte Charlie und sagte: »Ich glaube eher, dass du eine sehr ungewöhnliche Person bist, mein Freund.«
War das Lächeln auf Charlies Gesicht tatsächlich echt? Bei Charlie konnte man nicht sicher sein, und so blieb diese Frage unbeantwortet, als sie das Kaffeehaus verließen und getrennte Wege gingen. Charlie ging wohin auch immer, und Dodger kehrte in seine vertraute Welt zurück. Unterwegs kaufte er bei einem Schlachter kurz vor Ladenschluss einen saftigen Knochen für Onan, der ihn sabbernd im Maul heimtrug.
Kein schlechter Tag, fand Dodger, als er die Treppe zur Mansarde hochstieg. Er beendete ihn mit mehr Geld als am Morgen, ganz zu schweigen von einer Tasche voller Zucker.
5
Der Held der Stunde begegnet seiner Maid, die erneut in Not gerät, bekommt aber einen Kuss von einer sehr enthusiastischen Lady
Solomon arbeitete noch an seiner kleinen Drehbank, als Dodger die Treppe heraufkam. Es war seltsam, Solomon bei der Arbeit zu beobachten, denn er verschwand dabei. Oh, er war noch immer da, aber sein Gehirn schien in den Fingerspitzen zu stecken und achtete auf nichts anderes als das, womit die Hände beschäftigt waren, bis alles zu einem natürlichen Vorgang wurde, so sanft wie das Wachsen von Gras. Dodger beneidete ihn um seinen Frieden, aber so etwas passte nicht zu ihm, das wusste er.
Sols Klamotten hätten ebenfalls nicht zu ihm gepasst. Wenn der alte Knabe zur Synagoge ging, trug er sommers wie winters eine Pluderhose und einen abgewetzten Gabardinemantel. Und sicher in seine Mansardenhöhle zurückgekehrt, trug er Pluderhosen, die noch schlabberiger waren, mit einer Weste, die – das musste man ihm lassen – immer so weiß wie möglich war. Die Füße steckten oft in bestickten Pantoffeln, die aus irgendeinem fremden Land stammten, in dem Solomon irgendwann gelebt hatte und aus dem er, früher oder später, geflohen war. Und schließlich die Schürze: Sie hatte vorn große Taschen, damit kleine und teure Dinge, die vom Arbeitstisch rollten, darin landeten.
Ein appetitlicher Geruch wehte vom Topf auf dem Herd herüber – Missus Quicklys Hammelfleisch wurde einem guten Zweck zugeführt – und veranlasste Dodger, sich die Lippen zu lecken. Er wusste nie, wie Solomon das schaffte. Der alte Knabe war imstande, selbst aus einem halben Ziegelstein und einem Holzbrocken ein leckeres Essen zu zaubern. Einmal hatte er ihn danach gefragt, und Solomon hatte geantwortet: »Mmm, ich schätze, es liegt an den langen Wanderungen durch die Wildnis. Dabei lernt man, aus Wenigem möglichst viel zu machen.«
Den größten Teil der Nacht lag Dodger auf seiner Matratze wach, und das Wachliegen fiel ihm nicht weiter schwer. Unten auf den Gassen und in den Höfen kam es ständig zu Prügeleien, wenn die Männer von der Arbeit heimkehrten, und dann das Plärren der Säuglinge und das Gezänk – der ganze Lärm, der das Wiegenlied von Seven Dials war. Glückliche Familien, dachte er. Gibt es glückliche Familien? Und über den Straßen erklangen die Glocken; ihr Läuten hallte weit über die Stadt.
Dodger starrte an die Decke und dachte an die Kutsche. Von der Dreckigen Dory war vermutlich keine weitere Hilfe zu erwarten. Das hieß, er musste weiterhin Fragen stellen, um mehr herauszufinden – in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit jener Leute auf sich zu ziehen, die es gar nicht mochten, wenn derartige Fragen gestellt wurden, und denen es noch viel weniger gefiel, wenn jemand sie beantwortete.
Wo sollte er anfangen? Ein quietschendes Rad und eine noble Kutsche. Trug sie ein Wappen? Vielleicht eins mit Adlern? Möglicherweise erinnerte sich die junge Frau an Einzelheiten, wenn er sie wiedersah …
Nun, dachte er, Mister Mayhew will mich wiedersehen, ebenso seine Frau, und ein kluger junger Mann könnte sich schick machen, seine Stiefel putzen und sich das Gesicht waschen, bevor er losgeht und sie besucht. In der Hoffnung, dass er das Treffen mit etwas mehr als einer Tasse Tee verlässt, zum Beispiel etwas zu essen. Und wenn er überaus brav und respektvoll ist, dann lässt man ihn vielleicht noch einmal zu der jungen Dame mit dem wundervollen goldenen Haar.
Man kann Schläue nicht einfach beiseitelegen, wenn man sie nicht mehr braucht, und Dodgers Schläue flüsterte ihm ein, dass er vielleicht auch Geld bekäme, wenn er ein braver Junge war. Denn er glaubte zu verstehen, zu welcher Sorte von Menschen Mister und Missus Mayhew gehörten. Erstaunlicherweise begegnete man manchmal feinen Leuten, die tatsächlich Anteil nahmen an den Leuten auf der Straße und sich ihretwegen schuldig fühlten. Wenn man arm war und einigermaßen sauber und manierlich zu sein versuchte, und wenn man außerdem eine Leidensgeschichte so gut erzählen konnte wie Dodger – der sie gar nicht zu erfinden brauchte, denn in seinem Leben hatte es genug echtes, wahrhaftiges Leid gegeben –, dann waren sie wahrhaftig bereit, einen zu küssen, weil sie sich dadurch besser fühlten.
Als er da in der Dunkelheit lag und an die junge Frau dachte, schämte er sich ein wenig, weil er vor allem überlegte, wie er möglichst viel für sich herausschlagen konnte. Die Rettung der Unbekannten war für sich genommen eine Belohnung, zugegeben, aber schließlich musste man auch leben, oder?
2
Ein kleiner Mann oder Junge, der durch schmale Fenster oder Oberlichter kriechen konnte – insbesondere durch Oberlichter, die oft offen gelassen wurden –, anschließend seine Komplizen ins Gebäude ließ und mit ihnen alles stahl, was nicht niet- und nagelfest war.