Voller Unbehagen drehte er sich auf die Seite und dachte an Charlie, der Dodger für eine Art Piratenkönig zu halten schien. Wenn man es sich genau überlegte … Charlie schien ein Spielchen zu spielen. Jeder Junge möchte ein großer Junge sein, ein feiner Typ, nicht wahr?, dachte Dodger. Weil man sich dann groß fühlt. Für Charlie waren Worte ein kompliziertes Spiel, und obwohl sich Dodger damit kaum auskannte, so blieb es trotzdem ein Spiel. Und er, Dodger, beherrschte das Spiel des Überlebens.
Er blickte ins Nichts und dachte an Opa, der mit einem Lächeln in der Kanalisation gestorben war, umgeben von allem, was die Kanalisation aufzubieten hatte. Es würde eine ganze Weile dauern, bis Dodger erneut den Mahlstrom aufsuchte. Ratten waren klein, aber es gab viele von ihnen, und es würden immer mehr werden, wenn sich die Neuigkeit herumsprach. Er würde mindestens zwei Wochen verstreichen lassen, bevor er dorthin zurückkehrte, wo der Alte gestorben war. An den Ort, erinnerte er sich, wo er hatte sterben wollen.
Dann war da noch Holzbein Higgins, der zwei gesunde Beine gehabt hatte, bis er im Krieg irgendwo in Spanien von einer Kanonenkugel getroffen worden war.
Und hier war er, Dodger, und plötzlich hafteten Charlies Worte an ihm und veränderten seine Welt – eine Welt, in der er gerade noch ein zufriedener Tosher gewesen war, bis er plötzlich als Held galt und in den piekfeinen Häusern piekfeiner Leute ein und aus ging. Man schien eine andere Person zu sein als jene, in deren Haut man morgens aufgewacht war. Dodger fühlte sich wie von einer großen Feder gezogen. Vielleicht, dachte er, muss sich ein Junge irgendwann entscheiden, zu welcher Art von Männern er einmal gehören will. Will er der Spieler sein oder die Spielfigur …?
Dodger lächelte im Dunkeln, schlief ein und träumte von goldenem Haar.
Am Morgen schrubbte er das Gesicht ab, bevor er sich auf den Weg zum Haus von Mister Mayhew machte. Bei Tageslicht wirkte das Haus recht stattlich. Es war kein Palast, sondern das Heim eines Mannes, der genug Geld besaß, um Gentleman genannt zu werden. Die ganze Straße sah so aus: elegant, ordentlich, sauber. Es ging sogar ein Polizist Streife, und zu Dodgers großer Überraschung winkte er zum Gruß. Es war kein großartiges Winken, nur eine kleine Bewegung mit den Fingern, aber bis vor Kurzem hätte ihn ein Polizist in einer solchen Gegend aufgefordert zu verschwinden, und zwar fix. Ermutigt erinnerte sich Dodger an Charlies Ausdrucksweise, erwiderte den Gruß des Constable und sagte: »Guten Morgen, Officer, was für ein schöner Tag, zweifellos.«
Nichts geschah! Der Polizist schlenderte an ihm vorbei, und damit hatte es sich. Na so was! Hoffnungsvoll gestimmt fand Dodger das Haus. Schon früh hatte er gelernt, sich bei den Hintertüren von Häusern nobler Viertel herumzutreiben und – ein sehr wichtiger Punkt – als spritziger Junge zu gelten. Ihm war klargeworden: Wenn man schon ein Gassenjunge war, so half es, eine Berufung darin zu sehen und ein möglichst guter Gassenjunge zu werden. Und um ein möglichst guter Gassenjunge zu sein, musste man schauspielerische Talente entwickeln. Darauf lief es hinaus. Man musste mit allen reden können, mit den Butlern und Köchen, mit den Hausmädchen und sogar mit den Kutschern. Kurz gesagt, man musste der fröhliche Bursche sein, immer gut drauf, allen bekannt. Es war Theater, und er trat dabei als der große Star auf. Ruhm und Reichtum errang man kaum, aber man riskierte auch nicht, am Galgen zu enden. Nein, Sicherheit lag in einem Talent, das man sein Eigen nennen konnte, und sein Talent bestand darin, Dodger zu sein, ganz und gar Dodger. Also ging er nun ums Haus herum zur Hintertür und hoffte, noch einmal der Köchin Missus Quickly zu begegnen und ein weiteres Stück Hammelfleisch zu ergattern.
Ein Dienstmädchen öffnete die Tür und fragte: »Ja, Sir?«
Dodger straffte die Gestalt und sagte: »Ich möchte zu Mister Mayhew. Ich glaube, er erwartet mich. Mein Name lautet Dodger.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als es im Haus klapperte, woraufhin das Dienstmädchen ein wenig in Panik geriet, was bei Dienstmädchen oft der Fall ist (insbesondere wenn sie es mit Dodgers fröhlichem Grinsen zu tun bekamen). Doch sie entspannte sich, als sie von Dodgers alter Freundin Missus Quickly beiseitegeschoben wurde, die ihn von Kopf bis Fuß musterte und sagte: »Na, sieh mal einer an, hast dich richtig herausgeputzt, und ob! Entschuldige bitte, dass ich keinen Knicks mache, aber ich stecke bis zu den Achseln in Gekröse.«
Einen Moment später kehrte die Köchin zur Tür zurück, diesmal unbelastet von Innereien. Sie verscheuchte das Dienstmädchen mit den Worten: »Mister Dodger und ich halten ein Schwätzchen. Geh und kümmere dich um die Schweinshaxen!« Dann schenkte sie Dodger eine Umarmung, an der auch gewisse Anteile von Gekröse beteiligt waren, wischte ihn anschließend ab und sagte: »Du bist der Held der Stunde, mein kleiner Schatz, ja, das bist du, sie haben beim Frühstück darüber gesprochen! Offenbar hast du Schlingel gestern ganz allein verhindert, dass der Morning Chronicle von Räubern gestürmt wurde.« Sie bedachte Dodger mit einem frechen Lächeln. »Ich sagte mir: Wenn das der junge Mann ist, den ich neulich kennengelernt habe, so kann er nur dann einen Diebstahl verhindern, wenn er die Hände auf den Rücken legt. Aber es scheint, dass du gegen Räuber gekämpft und sie verjagt hast, so heißt es. Man stelle sich das vor! Bestimmt dauert es nicht mehr lange, bis man dich bittet, Bürgermeister zu werden. Wenn es dazu kommt, möchte ich deine Bürgermeisterin sein – keine Sorge, ich bin viele Male verheiratet gewesen und weiß, wie’s geht.« Sie lachte über Dodgers Gesichtsausdruck und fügte ernster hinzu: »Gut gemacht, Junge! Das Mädchen soll dich nach oben zur Familie bringen. Schau bei mir vorbei, bevor du gehst, vielleicht habe ich ein Päckchen mit Wegzehrung für dich.«
Dodger folgte der Bediensteten die steinerne Treppe hinauf zu der magischen Tür zwischen den Menschen, die den Boden wischen, und den anderen, die über den Boden schreiten, zu der Tür zwischen dem Unten und dem Oben der Welt. Was er im Oben fand, war ein Chaos, mit Ehemann und Ehefrau als unfreiwilligen Schiedsrichtern bei einem Streit zwischen zwei Jungen. Offenbar ging es darum, wer wessen Zinnsoldaten zerbrochen hatte.
Mister Mayhew nahm Dodger am Arm und nickte seiner Frau zu, die ihm von dem kleinen Kriegsschauplatz herüber ein verzweifeltes Lächeln zuwarf, während er ins Arbeitszimmer ihres Mannes gezogen wurde. Dort drückte ihn Henry Mayhew auf einen unbequemen Stuhl, nahm ihm gegenüber Platz und sagte sofort: »Es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen, junger Mann, insbesondere in Anbetracht deines Eingreifens gestern Abend. Charlie hat mir davon erzählt.« Er zögerte. »Du bist ein höchst bemerkenswerter junger Mann. Darf ich … dir einige persönliche Fragen stellen?« Bei diesen Worten griff er nach Notizbuch und Bleistift.
An eine solche Behandlung war Dodger nicht gewöhnt. Leute, die ihm persönliche Fragen stellen wollten, etwa Wo warst du in der Nacht zum Sechzehnten?, stellten sie in der Regel, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen, und sie erwarteten, dass er sogleich Auskunft erteilte. »Ich habe nichts dagegen, Sir«, erwiderte er vorsichtig. »Vorausgesetzt, die Fragen sind nicht allzu persönlich.« Er sah sich im Zimmer um, während der Mann lachte, und dabei dachte er: Wie kann ein Mann so viel Papier besitzen? Überall lagen Bücher und Zeitungen, auch auf dem Boden, aber sie bildeten ordentliche Stapel.
Mister Mayhew begann mit seiner Befragung. »Ich nehme an, du bist nicht richtig getauft, oder? Ich finde das kaum vorstellbar. Hast du dir den Namen Dodger selbst zugelegt?«
Dodger entschied sich für eine Variante von Ehrlichkeit. Immerhin hatte er dies alles schon mit Charlie hinter sich gebracht, und deshalb präsentierte er eine leicht gekürzte Version der Dodger-Geschichte, denn man verriet nie jemandem alles. »Nein, Sir, ich bin ein Findelkind, Sir, und im Waisenhaus nannte man mich Dodger, weil ich so schnell bin.«